Außensicht

Anspruch auf Armut

Aus ff 10 vom Donnerstag, den 09. März 2023

Gewerkschaft: Neulich beging der Südtiroler Gewerkschaftsbund (SGB-Cisl) einen „Sensibilisierungstag“. Thema: „Wussten Sie, dass fast die Hälfte der Südtiroler angibt, dass sie mit ihrem Lohn nur schwer bis ans Monatsende kommen?“ Nein, wusste ich nicht, aber der Notruf kommt mir vertraut vor. Ich hatte die Ehre, derselben Gewerkschaft zu ihrem 70sten Geburtstag den Festvortrag zu halten. Das war vor fünf Jahren. Ich traf mich zu einem Vorgespräch mit dem damaligen Generalsekretär, Michele Buonerba sein Name, und in meiner Naivität glaubte ich, ihn bedauern zu müssen, weil ja in diesem Land mit seinem Wohlstand Gewerkschaftsarbeit wirklich nicht leicht sei.

Weit gefehlt! General Buonerba wollte den Wohlstand nicht leugnen, doch, ich sag’s wörtlich: „Du musst bedenken, dass 42 Prozent der Südtiroler Schwierigkeit haben, mit ihrem Lohn ans Ende des Monats zu kommen“. Die Floskel vom „Ende des Monats“ überhöre ich und antworte: „42 Prozent, fast die Hälfte? Glaub ich nicht.“ Er drauf: „Ma ci sono i dati.“ „Umso schlimmer für die Daten!“, gab ich zurück und kapitulierte. Daheim erzählte ich den Wortwechsel meiner Frau. Sie ist bedächtiger, überlegte ein bisschen: „Fast die Hälfte in Schwierigkeiten?“ Und sagt: „Da wird man aber nach den Ansprüchen fragen müssen.“

Ich erzählte das im Festvortrag, und es gab erheiterten Zuspruch für die Schlagfertigkeit meiner Frau. Inzwischen hat unser Massenblatt den Anteil der Nicht-ans-Monatsende-Kommenden schon einmal auf 48 Prozent angehoben, und jetzt die Gewerkschaft am „Sensibilisierungstag“ sensibler auf „fast die Hälfte“. Die Datenquelle, hab ich herausgefunden, ist eine Umfrage des Arbeitsförderungsinstituts, dessen Direktor ich in der Zwischenzeit auf „etwa 15 Prozent“ heruntergehandelt habe. Moral: Alle arm, niemand arm. Den Schaden für die auffrisierte Armutsstatistik tragen die 15 Prozent echt Notleidenden.

Florian Kronbichler | Journalist, ehemaliger Chefredakteur der ff

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