Außensicht

Ötzi und die Wahl: Die Stimmen der Toten

Aus ff 35 vom Donnerstag, den 31. August 2023

Immer wenn ich die Worte „Neue Erkenntnisse aus Bozen“ lese, spüre ich kalten Schweiß auf meiner Stirn. Ich stelle mir dann vor, wie Wissenschaftler in ihre weißen Kittel schlüpfen, mit Skiunterwäsche und Schabgeräten, und wild an einer Leiche herumstupsen – zitternd, grinsend, die Pressemitteilung schon vorformulierend: „Neue Erkenntnisse aus Bozen: Ötzi war GEWERKSCHAFTER!“

Wir wissen über diesen Kadaver, wie er gewandert und verreckt ist, was er geraucht und gesnackt hat, welche Intoleranzen er hatte (Laktose, spitze Pfeile) und welchen Style. Ich kenne diese Gletschermumie mittlerweile besser als meine engsten Freunde. Und jedes Mal, wenn ich von ihr höre, geht es ihr ein bisschen schlechter.

De mortuis nihil nisi bene, heißt es, nur für diesen Toten scheint das nicht zu gelten. Bei meinen ersten Museumsbesuchen präsentierte er sich noch fesch wie ein Chippendale, oberkörperfrei und durchtrainiert. Mit jeder neuen „Erkenntnis“ aber gerät der Mann zur Maus: Vielleicht war er doch übergewichtig, lachen die Forscher, vielleicht hatte er doch Diabetes. Für eine Mumie aus dem ewigen Eis hält er sich erstaunlich schlecht. „Wer möchte, darf sich unseren Ötzi ruhig mit Glatze vorstellen“, sagt Museumsdirektorin Elisabeth Vallazza. Aber ich möchte doch gar nicht!

So langsam fürchte ich, dass sich Frau Vallazza zum Wahlkampf-Endspurt noch eine Forschungsreihe einfallen lässt, um den Ärmsten weiter zu demütigen: „Neue Erkenntnisse aus Bozen: Hätte Ötzi die GRÜNEN gewählt?“, so könnte es in der Pressemitteilung stehen, womöglich hat er sich an den Gletscher geklebt. Andererseits: Die Glatze, die Tattoos, diese verdächtige Wirth-Anderlanigkeit – magari war er doch ein Rechter? „Tja, da muss noch weiter geforscht werden“, wird Vallazza sagen. Bitte nicht!

Meine Hoffnung ruht auf Sven Knoll. Ich stelle mir vor, wie er sich über die Mumie beugt und die staunenden Wissenschaftler mit medizinischem Fachwissen zum Schweigen bringt. „Ötzi war ein Freiheitskämpfer“, wird er zur Ehrenrettung meines Freundes verkünden: „Aanes waaß i ganz gewiss, dass de Leich’ da Hofa is.“

von Anton Rainer | Redakteur im Ressort Wirtschaft beim Spiegel in Hamburg

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