Außensicht

Vom Nazi zum Hubsi: Plötzlich Freiwild

Aus ff 37 vom Donnerstag, den 14. September 2023

Unter allen Verfehlungen, die ein Mensch im Laufe eines Lebens anhäuft, sind die Jugendsünden der größte Gleichmacher. Jeder hat sie begangen, keiner will sie begangen haben, und alle, die schon mal nachts mit großen Augen die Raufasertapete anstarrten, möchten sie am liebsten vergessen. Blöd nur, dass das so schwierig ist. Die erste Igel-Gel-Geschmacksverwirrung beim Friseur? Das erste Treber-Erbrochene auf der Matratze? Das erste Mal erwischt werden bei der Balkon-Flucht in die Disco Max? Solche Schmach verdrängt man nicht, sie brennt sich ins Gedächtnis ein wie das Muas in die Pfanne. Ich spreche aus Erfahrung.

Insofern kann sich Hubert Aiwanger glücklich schätzen, er vermag, was sonst niemand kann: Er vergisst. Vielleicht hat das Hirn des Bayerischen Vize-Ministerpräsidenten irgendwann gestreikt, weil die Sündenmasse zu groß wurde. Vielleicht hat auch der Bierzelt-Dunst über die Jahre Folgeschäden verursacht, wer weiß. Aiwanger jedenfalls weiß nichts. Nichts von den Hitlergrüßen, die er als Teenager gezeigt haben soll. Nichts von judenfeindlichen Schriften in seiner Schultasche, den Judenwitzen oder den acht bis zehn selbst gepinselten Hakenkreuzen, die er offenbar von den Schulklowänden schrubben musste. „Das ist nicht Hubert Aiwanger“, sagte Hubert Aiwanger über Hubert Aiwanger und damit war die Sache erledigt.

Ich hatte die Deutschen immer für ein Volk gehalten, das nicht vergisst. Stattdessen hat es nun seinen eigenen Schmalspur-Waldheim, der dem Bruder statt dem Pferd alle Schuld aufbürdet. Selbst Südtirol scheint da weiter. Als die Freiheitlichen 2018 eine Lehrerin mit rechtsextremer Vergangenheit auf ihre Liste packten, war die Kandidatin kurz darauf weg. Oder Freiwild-Sänger Philipp Burger: Der Mann keilt und schimpft gegen die „Wichser United“, die ihm seine Skinhead-Zeit vorhalten – aber vergessen hat er seine Hitlergrüße noch nie. Da staunt der Laie und der Redakteur wundert sich: Freiwild hat seine Vergangenheit besser aufgearbeitet als der bayerische Vize-Ministerpräsident? Auch so ein Satz, von dem man nie dachte, dass man ihn einmal schreiben würde.

von Anton Rainer | Redakteur im Ressort Wirtschaft beim Spiegel in Hamburg

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