Gesellschaft & Wissen

Die Urmacht des Lebens

Aus ff 10 vom Donnerstag, den 05. März 2020

Roger Pycha
Roger Pycha ist Primar der Psychiatrie am Krankenhaus Brixen: „Ängste bewältigt man nur, indem man sich ihnen stellt.“ © Alexander Alber
 

Angst gehört zum „Überlebensprogramm der Menschheit“, sagt der Psychiater Roger Pycha. Wie damit umgehen in Zeiten des Coronavirus?

ff: Jedes Jahr erkranken viele Menschen an Grippe, wenn ein Virus die Runde macht. Wir nehmen es zur Kenntnis. Das Coronavirus aber macht uns Angst.

Roger Pycha: In der Saison 2017/2018 hat das Grippevirus allein in Deutschland gut 25.000 Menschen getötet.
Aber im Unterschied zum Corona-
Virus kennen wir das Grippe-Virus und sein Verhalten genau, wir können uns mit einer Impfung schützen, wenn wir wollen. Ich halte es also nicht für falsch, wenn man mit etwas, das man nicht kennt, sehr vorsichtig umgeht.

Das Unbekannte macht uns Angst, das Bekannte lässt uns eher gleichgültig.

Deshalb wollen – und müssen – wir mehr wissen über das Coronavirus. In diesem Sinne ist Wissen Macht. Wenn Wissen die Emotionen ablöst, beruhigt sich unser Stirnhirn, das unsere Bewegungen kontrolliert und unser Sozialverhalten steuert. Corona erzeugt ja nicht nur Angst, sondern auch Solidarität: Wir versuchen gemeinsam, mehr darüber herauszufinden, um uns besser davor zu schützen. Es hilft gegen Angst, wenn man den negativen Gefühlen positive Gefühle entgegensetzten kann.

Angst ist etwas, das den Menschen

seit jeher begleitet.

Wir leben heute noch mit dem Genmaterial, das unsere Vorfahren in der Jungsteinzeit angelegt haben, also in den Jahren 300.000 bis 70.000 vor unserer Zeitrechnung. Wir stammen von Menschen ab, die am Feuer saßen und beim ersten Rascheln im Gebüsch die Bäume hochgeklettert sind und deshalb nicht vom Säbelzahntiger gefressen oder von ihresgleichen getötet wurden. Sie haben überlebt, weil sie Angst hatten. Deshalb ist Angst das Grundgefühl der Menschheit. Warum lesen wir Zeitungen? Vor allem, um spektakuläre negative Nachrichten herauszufiltern. Wir glauben, dass wir uns besser schützen, aus der Gefahrenzone entfernen und etwas Lustvollem zuwenden können, wenn wir einen Informationsvorsprung haben. Die Angst ist das Nützlichste aller Gefühle im Gehirn.

Welche Formen kann sie annehmen?

In der Medizin reden wir von Angststörungen. Sie können wir behandeln. Da ist die Panik, Todesangst, die nicht lange dauert. Da ist die generalisierte Angst, das Gegenteil von Panik – ich sehe mich von Reizen umzingelt, die Angst machen, der Alltag verunsichert mich, ich weiß aber nicht genau, wovor ich Angst habe. Da ist die Phobie, die Angst vor bestimmten Gegenständen oder Situationen, wie Flugangst zum Beispiel.

Es könnte also auch eine
Coronavirus-Phobie geben?

Das Krankheitsbild nennen wir Hypochondrie. Ein Leiden an Erkrankungen, die nicht vorhanden sind. Viele Menschen sind hypochondrisch, weil sie ihren Körper unglaublich genau beobachten. Jeder Husten, jedes Bauchgrimmen ist schon der Beginn einer möglichen tödlichen Krankheit. Diese Menschen sind sozusagen angstkrank, ihr Angstlevel fördert negative
körperliche Reaktionen, beschleunigten Herzschlag, kalten Schweiß, hechelnden Atem, Krämpfe.

Angst ist eine Urmacht?

Sie ist das Überlebensprogramm der Lebewesen. Angst und das zentrale
Nervensystem gehören zusammen. Ich kann mich nicht schützen, wenn ich nicht imstande bin, mich von der Quelle der Angst zu entfernen. Angst ist die eine Urmacht des Lebens, die andere ist die Lust. Von der Angst will ich weg, zur Lust will ich hin.

Angst bereitet Schmerz …

… und Lust. Es ist wunderschön, wenn ich die Angst überwunden habe. Dann habe ich daraus gelernt, bin resilient, widerstandsfähig geworden. Angst hat einen Nutzen, wenn sie mir erlaubt, ein besseres Leben zu beginnen. Ich weiß dann, ich darf Angst haben, zum Beispiel vor einer Prüfung, ja ich bin sogar leistungsstärker, weil mein sympathisches Nervensystem alles tut, um mehr Energie zur Verfügung zu stellen. Diese Energie ist dazu nötig, um in Stress- oder Angstsituationen möglichst rasche und sinnvolle Lösungen zu erarbeiten. Diese Lösungen wiederum nehmen mir die Angst.

Wann behindert Angst das Leben?

Angst kann auch tödlich sein. Angst­störungen sind mit einer erhöhten Suizidalität verbunden, nicht stark erhöht, aber immerhin. Und Angst kann lähmen, weil ein primitiver Mechanismus wirkt, der im Tierreich seine Berechtigung hat, der sogenannte Totstellreflex.

Die Menschen erstarren.

In schweren Krisen gibt es Schockphasen, in denen Menschen, meist nur ein paar Minuten, manchmal auch 24 Stunden zu keiner Reaktion imstande sind, sie sind nicht in der Lage, sich zu retten, sich aus der Gefahrenzone zu entfernen. Auf sie folgt die Reaktionsphase, in der ein Mensch extremen Gefühlen ausgesetzt ist, Verzweiflung, tiefen Ängsten, Wut und Hass. Die widersprüchlichen Gefühle können ihn fast zerreißen. Erst danach setzt der Verstand ein, und er ist imstande zu erfassen, was das Ausmaß der Krise ist, was wirklich geschehen ist, dann kommt die rationale Reaktion, die Pläne, um wieder Sicherheit zu gewinnen.

Wie kann man die Angst bewältigen? Indem man sich zu Hause auf die Couch legt oder eine Beruhigungspille nimmt?

Wohl eher nicht. Angst bewältige ich am besten, indem ich mich ihr aussetze und zulasse, dass mein Stirnhirn einen Plan entwickelt, um die Angst zu bewältigen. Wenn die Angst mich überschwemmt, muss ich aus dem Erregungszustand herausfinden. Da helfen Entspannungsübungen, Ausdauersport oder Meditation, die mich lehrt, das Hier und Jetzt, eben auch die Angst, zu akzeptieren.

Heruntergebrochen auf das
Coronavirus, was würde das heißen?

Ich habe viele Infos, die mir sagen: Das Coronavirus stellt eine Gefährdung dar, aber ich kann einige Maßnahmen treffen. Ich kann einige Dinge beeinflussen und andere nicht. Das hieße also, das tun, was vernünftig ist. Keine Hamsterkäufe, weil es unwahrscheinlich ist, dass Lebensmittel knapp werden und der Mensch im Ernstfall auch mit weniger auskommt. Aber es ist klug, große Menschenansammlungen zu meiden, sich nicht in die rote Zone zu begeben.

Ist Angst ein Kennzeichen der
modernen Gesellschaft?

Ja. Deshalb haben Medien und soziale Medien eine große Verantwortung. Der Soziologe Niklas Luhmann hat einmal gesagt, die Medien sind eigentlich dazu da, Ängste zu wecken und dann diese Ängste durch glaubwürdige Informationen wieder zu dämpfen. Dann können wir daraus lernen, ihr positive Gefühle entgegensetzen. Und positive Gefühle schaffen wir, indem wir es uns auch in der jetzigen Situation möglichst gut gehen lassen, im kleinen Kreis Sicherheit suchen. Aber auch Verhaltensweisen wie Desinfektion oder Händewaschen systematisch anwenden. Eine kleine Verantwortung, aber eine Verantwortung.

Würde es helfen, den Kopf in den Sand zu stecken, nichts mehr zu hören?

Die Medien sind ja nicht infektiös, sondern höchstens psychoinfektiös. Es würde aber helfen, nicht pausenlos Informationen zu sammeln. Das muss ich nur, wenn mein Leben in Gefahr ist, weil sich eine Neuigkeit als Rettung erweisen könnte. Wir schauen viel zu oft auf unser Handy – das müssen wir uns abgewöhnen. Jeder neue Tote steigert die Angst. Einmal am Tag sich zu informieren genügt, um nichts Wesentliches zu versäumen. Als Menschheit versuchen wir im Moment, vernünftig zu handeln, unabhängig von den politischen Systemen. Das ist ein großes Experiment der weltweiten Kooperation und Solidarität. Es ist natürlich schwierig auszuhalten, wirtschaftlich, wenn man sagt, es gibt weniger Flüge nach Italien, aber virologisch gesehen, ist es eine kluge Maßnahme.

Unternehmer sagen: Zurück zur Normalität. Kann man Normalität verordnen?

Die Rückkehr zur Normalität wird dann erfolgen, wenn es positive Indizien gibt, dass das Virus eingedämmt werden kann.

Können wir uns an das Virus gewöhnen?

Ja. Das werden wir müssen, wenn wir nicht imstande sind, es einzudämmen. Im Moment besteht die Chance, dass wir es in ein, zwei Jahren schaffen – es gab schon einige eigenartige Erkrankungen, die heute Geschichte sind. Ich habe die Hoffnung, dass es gelingen kann. Aber dazu gehört auch, Maßnahmen zu akzeptieren, die die Wirtschaft beschneiden, etwa die Einschränkung des Personenverkehrs, um das Risiko der Infektionen einzuschränken.

Angst schadet. Und nützt.

Die gute, aktivierende Angst hilft Betroffenen, machbare von nicht machbaren Maßnahmen, günstige von ungünstigen Verhaltensweisen zu unterscheiden. Und die richtigen Maßnahmen zu ergreifen. Die Angst ist schädlich, wenn eine Übererregtheit gelebt wird, die wiederum die Angst verstärkt – die Angst vermehrt sich selbst sozusagen. Dann werden Stresshormone ausgeschüttet, langfristig aktiviert, die wiederum die Abwehrkräfte des Körpers gegen Keime heruntersetzen. Im akuten Fall wird durch Angst kurzfristig mehr Energie zur Verfügung gestellt, um Lösungen zu finden, langfristig schwächt eine Stressreaktion den Körper und den Geist. Das müssen wir verhindern.

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  • Politik und Sanität

Das Coronavirus (Sars-Cov-2) verbreitet sich langsam über ganz Europa. Weltweit ist Italien das Land, das nach China und Südkorea am meisten von diesem neuartigen Virus betroffen ist (alle Angaben Stand Dienstag, 18 Uhr).

Am Dienstag zählten die Behörden in Italien um die 1.900 infizierte Patienten und 52 Todesfälle (meistens ältere Menschen mit Vorerkrankungen). Die meisten Fälle zeigen einen leichten Verlauf, in vielen Fällen zeigen Menschen, die sich angesteckt haben, auch gar keine Symptome. Aber sie können andere damit anstecken.

In der Lombardei und im Veneto, den Infektionsherden, sind nach wie vor ganze Gegenden, 50.000 Menschen, abgeriegelt, die „Zone rosse“, von denen aus sich das Coronavirus über das Land verbreitet hat. In einem Fall auch nach Südtirol. Der Mann zeigte keine Symptome, weitere Ansteckungen in seiner Umgebung wurden nicht festgestellt.

Aus Deutschland jedoch kommen Meldungen von vier Menschen, die nach ihrem Urlaub in Südtirol positiv getestet wurden. Bei neun weiteren Urlaubern (Deutschland, Frankrreich, England) wartet man noch auf das Ergebnis der Tests. Zwei Urlauber aus Deutschland wurden nach der Rückkehr von der Biathlon-WM in Antholz positiv gestestet. Wo haben Sie sich angesteckt? Trugen sie in der Woche, in der sie sich hier aufhielten, schon das Virus in sich? Ein anderer positiv getesteter Urlauber hatte sich in Wolkenstein aufgehalten. Die Landesregierung hat nun die Schulen in den Gemeinden Welsberg, Toblach, Prettau, St. Christina, Wolkenstein und Abtei vorübergehend geschlossen.

Die Behörden raten dazu, Menschenansammlungen zu meiden, sich öfter die Hände zu waschen, Oberflächen zu desinfizieren, den Kontakt mit Menschen zu meiden, die an Atemweginfekten leiden, bei Niesen oder Husten Mund und Nase zu bedecken. Wer bei sich die Symptome einer Erkrankung (Fieber, Husten) entdeckt, mit Menschen in Kontakt war, die positiv getestet wurden, oder sich in Risikozonen aufgehalten hat, darf auf keinen Fall zum Arzt gehen oder die Erste Hilfe aufsuchen. Er soll stattdessen die Nummer 800 751751 wählen.

Genauso groß wie die Angst vor dem Virus ist die Angst der Wirtschaft vor einer Rezession. Unternehmen bekommen schon jetzt dringend benötigte Bestandteile für ihre Produktion nicht mehr oder können Wartungen nicht durchführen. Deshalb fordern sie eine „Rückkehr zur Normalität“. Doch was wäre das, Normalität, in Zeiten, in denen sich ein unbekannter Erreger, gegen den es noch keinen Impfstoff gibt, in Europa ausbreitet? (gm)

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