Das Virus hat längst auch die Wirtschaft im Land befallen. Viele Unternehmen stehen still oder arbeiten mit angezogener Handbremse. Wie lange können wir das durchhalten?
Gesellschaft & Wissen
Schaut aufs Land!
Aus ff 14 vom Donnerstag, den 02. April 2020
Der Kulturgeograph hat ein Leben lang das Landleben erforscht. Er weiß, was in den vergangenen Jahrzehnten dort passiert ist. Wird in der Krise das Landleben zur Alternative?
ff: Landleben scheint wieder schick zu sein. Oder ist das eine Täuschung?
Werner Bätzing: Das ist eine Täuschung. Ein vordergründiger Eindruck. Das Leben auf dem Land hat, das stimmt, bei den Menschen eine Aufwertung erfahren. Aber die Rahmenbedingungen, die Politik und Wirtschaft schaffen, sind für das Landleben weiterhin ungünstig.
Wäre es jetzt nicht sicherer, auf dem Land zu leben?
Auf dem Land sind die sozialen Kontakte enger, anderserseits kann man sich besser versorgen. Das gleicht sich aus. Aber mit der Corona-Krise, kann eine neue Perspektive auf das Landleben entstehen, wenn die Krise länger dauert. Bisher galt ja für unsere Gesellschaft: Je globaler umso besser. Jetzt kann es sein, dass eine Umwertung der Werte einsetzt.
Wovon reden wir also, wenn wir von Landleben reden?
Über eine Form des Lebens, die, im Gegensatz zum städtischen Leben, von einem engen Bezug zu Natur und Umwelt, konkret zur Kulturlandschaft, geprägt ist. Von einer Wirtschaft, die nicht sehr spezialisiert und eher regional als global orientiert ist. Und in kleinen Dörfern sind Sozialkontakte stärker ausgeprägt als in der Stadt. Man weiß, man muss mit dem Nachbarn auskommen, weil man ihn in Not und Unglücksfällen braucht, während man sich in der Stadt die Menschen nach Sympathie und Neigung aussuchen kann.
Warum wollen Sie unbedingt über das Landleben reden?
Weil es bedroht ist und die Gefahr besteht, dass die Stadt alles dominiert, das Landleben in den nächsten 20, 30 Jahren verschwindet.
Was würde das mit sich bringen?
Dass ein Teil des Landes entsiedelt wird und den Charakter als Lebens- und Wirtschaftsraum verliert und ein anderer Teil vorstädtische Strukturen ausbildet, die ich „Zwischenstädte“ nenne. Diffuse Strukturen, die weder Stadt noch Land sind.
Wo ist das Landleben bedroht?
Es ist besonders bedroht in peripheren Regionen, die mit wirtschaftlichen Schwierigkeiten kämpfen. In Europa sind dies alle Gebirgsräume einschließlich der Alpen, sofern es keinen Tourismus gibt, ganz Nordeuropa und die schlecht erreichbaren Gebiete in West-, Ost- und Südeuropa – diese Räume sind von Entsiedlung bedroht. In der Umgebung der großen Metropolen und entlang der Autobahnen, die sie verbinden, sind die ländlichen Räume dagegen von Verstädterung bedroht.
In Ihrem Buch gehen Sie weit zurück, 12.000 Jahre. Seit wann gibt es das Landleben?
Seit der Entstehung der Landwirtschaft, die eng mit Sesshaftigkeit und der damit einhergehenden Umwandlung der Natur- in eine Kulturlandschaft
verbunden ist.
Welche Folgen hatte die „Erfindung“ des Landlebens?
Die Menschen haben gemerkt, dass sie Natur stark verändern müssen, um leben zu können. Landwirtschaft heißt ja immer, in die Natur einzugreifen. Die Menschen mussten lernen, Natur nicht nur zu nutzen, sondern auch zu pflegen, also langfristig zu denken. Damit eine Gemeinschaft von der Landwirtschaft leben konnte, musste sie kommende Generationen miteinbeziehen und keine selbstzerstörerischen Prozesse auslösen. Und sie musste die inneren Konflikte lösen, Gemeinschaft bewusst gestalten.
Was war vorher?
Die Wildbeuter vor ihnen, die Jäger und Sammler, gingen auseinander, wenn es Streit gab, der nicht zu lösen war. Bei Bauerngesellschaften war das nicht mehr möglich, sie waren an die Landwirtschafts-Flächen als Lebensgrundlage gebunden.
Wie hat sich das Landleben in der Geschichte entwickelt?
An dem Punkt, an dem sich in einer Gesellschaft Arbeitsteilung und Speziali-
sierung herausbilden, wird das Land von den Städten dominiert und gerät in Abhängigkeit. Trotzdem sind die Städte, mit ihrem Fortschritt, ihrem Glanz, ihrer ausgeprägten Kultur, darauf angewiesen, dass das Land die Lebensmittel für die Stadt bereitstellt. Die Stadt ist aus sich heraus nicht überlebensfähig, aber das vergessen Stadtbewohner leicht. Oft entwickelt sich eine städtische Arroganz gegenüber dem Land: Nur wir besitzen Kultur, der wirkliche Mensch lebt in der Stadt.
Gibt es diese Anmaßung heute noch?
Teilweise. Sie tritt in der Überzeugung auf, Arbeitsteilung, Globalisierung, Spezialisierung seien typisch für Fortschritt, für eine entwickelte Kultur und diese Dinge gebe es auf dem Land weniger. Deshalb meinen viele Menschen, das Land sei zurückgeblieben, dumpfe Provinz. Das ist eine realitätsferne Position.
Warum?
Auch heute noch braucht die Stadt das Land unbedingt: für saubere Luft, sauberes Wasser, Energieproduktion, für Nutzungen, die in der Stadt keinen Platz finden, weil sie große Flächen benötigen, und so weiter. Gleichwohl hat die Stadt das Gefühl, dass sie das Land gar nicht benötigt. Nur im Mittelalter standen Stadt und Land vor allem in Mittel- und Nordeuropa gleichberechtigt nebeneinander.
Die industrielle Revolution im 19. Jahrhunderte brachte eine Benachteiligung des Landlebens mit sich.
Der Fortschritt konzentrierte sich auf die neuen Industriestädte – U-Bahn, Eisenbahn, Theater und Bibliotheken, Abwassersysteme, Telefon. Das Land kommt nicht mit, das moderne Leben ist städtisch geprägt.
Gleichzeitig wird das Land verherrlicht.
Das ist die Kehrseite der Medaille. Man wertet das Land ab, indem man es nur mehr in der Freizeit als schöne Natur nutzt. Die Menschen, die dort leben, werden als bessere Wilde wahrgenommen.
Die Städter erfanden damals auch den Natur- und Heimatschutz …
… und stießen damit bei den Landbewohnern auf großes Unverständnis. Die Städter waren der Ansicht, die industrielle Revolution zerstöre diese schöne Natur, aber sie haben nicht gesehen, dass die Landschaft nicht mehr Naturlandschaft, sondern eben Kulturlandschaft ist. Stellt man diese Landschaft unter Schutz und verbietet jegliche landwirtschaftliche Nutzung, verliert diese Landschaft ihren besonderen, ihren schutzwürdigen, Charakter. Ein klassisches Beispiel in Deutschland ist die Lünebürger Heide.
Warum?
Sie entstand durch landwirtschaftliche Nutzung, durch die Rodung von Bäumen, Schaffung von Weiden und Abtragung des Oberbodens. Stellt man sie unter Schutz, kommen die Bäume wieder und es entsteht ein austauschbarer Wald. Sie hat also ihren besonderen Landschaftscharakter, den Heidecharakter, verloren. Da ist Naturschutz kontraproduktiv.
Warum haben die Menschen auf dem Land den Naturschutz nicht verstanden?
Wovon hätten sie leben sollen, ohne Nutzung der Natur? Die Natur ist ja ihre Lebensgrundlage, im Unterschied zur Stadt, wo der Städter Natur nur noch unter dem Freizeitaspekt wahrnimmt. Mit dem Heimatschutz entstand damals, gegen Ende des 19. Jahrhunderts, zugleich etwas sehr Problematisches.
Nämlich?
Konservative Kräfte, die der industriellen Revolution und der damit verbundenen demographischen und sozialen Entwicklung sehr misstrauisch gegenüberstanden, hätten am liebsten die Zeit zurückgedreht, sie hielten Großstädte für das Übel der Menschheit. Dort ballten sich in ihren Augen Krankheiten und moralische Verderbtheit. Dieser Heimatschutz war politisch zwar nicht dominant, aber diese Bewegung wurde hinterher von den Nazis dankbar aufgegriffen und wird heute von der AFD genutzt.
Naturschutz ist seit Längerem wieder in. Warum?
Weil die Städter Natur nicht mehr wirklich kennen. Sie sind der Ansicht, dass der Mensch Natur zerstört, wenn er sie nutzt. Das sind die modernen Erfahrungen mit Natur, nicht die traditionellen, bäuerlichen. Da gilt es darüber aufzuklären, dass man im Rahmen des Landlebens über Jahrhunderte Natur genutzt hat, ohne sie zerstören.
Was würde das heute heißen?
Aufwertung von regionalen Produkten, die die regionale Verflechtung der Wirtschaft fördern und ein umweltverträgliches Wirtschaften ermöglichen, das die Natur nicht zerstört. Ein Wirtschaften aktivieren, das in den sozialen Kontext eingebettet und kein Selbstzweck ist. Wo Wirtschaft kein Selbstzweck ist, wo also nicht aus Geld Geld gemacht wird, sondern wo es den Zweck hat, die Mittel zum Leben beizubringen. Solche dezentralen Impulse werden aber oft durch Politik und wirtschaftliche Rahmenbedingungen eher gedämpft als gefördert.
Sie sagen, früher hätten die Bauern darauf geachtet, ihre Lebensgrundlagen nicht zu zerstören. Das hat sich seit den Sechzigerjahren mit der Industrialisierung der Landwirtschaft geändert. Lässt sich diese Entwicklung zurückdrehen?
Sie muss zurückgedreht werden. Diese Form der Landwirtschaft fährt gegen die Wand. Sie führt dazu, dass europaweit keine Bauern mehr, sondern nur einige wenige große agroindustrielle Betriebe übrig bleiben. Sie führt dazu, dass die Landschaft schwer übernutzt und zerstört wird, das Trinkwasser belastet wird und die Lebensmittel,
die so produziert werden, die Gesundheit gefährden. Diese Form der Landwirtschaft ist jetzt schon am Ende: Sie führt zu Gesundheitskatastrophen, zu Naturkatastrophen – und zum Verschwinden der Landwirtschaft.
In den Achtzigerjahren wurde das Landleben vom Auslaufmodell zu einer Mode. Was hat man sich dabei gedacht?
Die Ursache war eine Umwertung von Werten. Vorher galt: Je globaler, je arbeitsteiliger, umso besser. Die Menschen haben erkannt, dass diese Gleichung nicht stimmt. Im Gegenteil: Je globaler etwas ist, umso austauschbarer wird es. Auf einmal ist das Regionale nicht mehr das Bornierte, sondern das Globale. Die Coca-Cola-Kultur ist
auf der ganzen Welt gleich, damit kann man sich nicht mehr identifizieren.
Das Regionale bekommt jetzt eine ganz neue Bedeutung, es wird quasi Avantgarde, Ausdruck für eine Besonderheit, für Identität.
Eine romantische Vorstellung, aber stimmt sie auch?
Die Gefahr besteht, dass man das Landleben, das Regionale, romantisch überhöht. Und damit entwertet. Aber es ist gibt auch eine echte Aufwertung. Davor warne ich auch im Buch, dass man Landleben entwertet, indem man eine Idylle draus macht und Aufwertung nur fingiert. Denn die Wiedervernetzung von Wirtschaft, Gesellschaft, Umwelt, die notwendig ist, um das Landleben aufwerten, ist in unserer hochspezialisierten Gesellschaft sehr schwer umzusetzen. Da ist es einfacher, es sich in Form einer Idylle vorzumachen.
Was wäre fingiert, was wirkliche Umsetzung?
Fingiert wäre, aus einer Tradition eine Inszenierung zu machen, die nur am Sonntag oder um des Tourismus willen gezeigt wird. Eine echte Umsetzung wäre, einen alten Brauch und die sozialen Werte, die damit verbunden sind, zusammen mit den Menschen auf angemessene Weise zu modernisieren und neue Formen des Zusammenlebens zu entwickeln.
Was wären neue Formen des Zusammenlebens?
Neue Formen von Genossenschaften, neue Formen von Gemeineigentum, die Entwicklung von neuen Traditionen, um das Bestehende,
um regionale Besonderheiten herum.
Sie würden gerne das Leben um 12.000 Jahre zurückdrehen?
Nein, das will ich nicht und das geht auch nicht. Es geht darum, dem Landleben eine Zukunft zu gehen, mit neuen Formen, die alten taugen nicht mehr. Die alten Formen der Landwirtschaft waren mit extrem viel Handarbeit verbunden, das ist heute nicht mehr möglich, nicht einmal mehr in der biologischen Landwirtschaft. Aber die alten Erfahrungen müssen in die neuen Formen des Wirtschaftens einfließen. Das heißt auch, dass der Staat im ländlichen Raum Arbeitsplätze schafft.
Ist das neue Landleben bio?
Bio ist eine Variante. Regionale Produkte sind oft nicht bio, aber umweltverträglich produziert. Es gibt nicht nur eine Form, wie man nachhaltig wirtschaften und leben kann.
Was würde das neue Landleben auszeichnen?
Dezentralität, wohnen, leben und arbeiten in kleinen Einheiten, Nähe zur Umwelt und zu den Nachbarn.
Was hat Landleben für Vorteile, was für Nachteile?
Die Vorteile sind Naturnähe, enge soziale Beziehungen, wenig spezialisierte Wirtschaftsformen. Die Nachteile die Abhängigkeit von der Natur – man ist der Natur und ihren Bedrohungen stärker ausgesetzt, soziale Kontrolle – sie ist höher als in der Stadt, weil sich alle gut kennen. Und in der Wirtschaft fehlen die hoch spezialisierten und gut bezahlten Arbeitsplätze.
Das Landleben ist unverzichtbar, weil …
… Wirtschaft und Gesellschaft sonst aus der Balance geraten. Das Stadtleben braucht das Landleben, damit es nicht seine Bodenhaftung verliert. Das Landleben zeigt, das es nicht geht, die Natur technisch in den Griff kriegen zu wollen, dass es ein Irrglauben ist, die Wirtschaft sei umso effektiver, je arbeitsteiliger und globalisierter sie sich entwickelt. Das Landleben zeigt, wir brauchen auch eine andere Form des Wirtschaftens.
Was beobachten Sie, wenn Sie über das Land schauen?
Es gibt immer weniger Arbeitsplätze, die Menschen pendeln immer mehr in die Städte, die Verhältnisse auf dem Land werden immer anonymer. In vielen Dörfern werden aber auch immer mehr Gemeinsamkeiten gepflegt, man versucht, konkret miteinander zu leben und zu arbeiten und so der Anonymität zu entfliehen. Oder man entdeckt regionale Produkte neu, nutzt lokale Ressourcen umweltverträglich. Flächen werden wieder entbuscht und für die Produktion von regionalen Produkten genutzt, es entsteht ein angepasster Tourismus, der das nutzt, was da ist.
Was passiert, wenn Menschen weggehen?
Der ländliche Raum verschwindet in der Wildnis. Wo hingegen der Tourismus forciert wurde entstanden im Alpenraum die klassischen Zwischenstadtstrukturen, der Massentourismus konzentrierte sich auf kleine Flächen, die Siedlungen wurden zu städtischen Freizeitparks – mit den Umweltproblemen einer Stadt. Das hat mit Landleben nichts mehr zu tun.
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Werner Bätzing, 71, hat das Landleben während seiner Lehrtätigkeit als Professor für Kulturgeographie an der Universität Nürnberg-Erlangen erforscht. Er hat beobachtet, was es bedeutet, wenn das Land entsiedelt wird wie in den piemontesischen Alpen. Und wozu es führt, wenn es durch den Massentourismus verstädtert. Die Erkenntnisse aus seinen Forschungen hat er in seinem Standardwerk „Die Alpen. Geschichte und Zukunft einer europäischen Kulturlandschaft“ (Beck 2015, 4. Auflage) niedergelegt.
Sein neues Buch „Das Landleben. Geschichte und Zukunft einer gefährdeten Lebensform“ (Beck 2020, 302 Seiten, 28,60 Euro) ist ein Plädoyer für die Aufwertung des Landlebens, ohne es zu romantisieren, für ein umwelt- und sozialverträgliches Leben und Wirtschaften. „Mit dem Buch“, sagt Bätzing, „wollte ich deutlich machen, dass es auf dem Land eine andere Form des Lebens und Wirtschaftens gibt, die ihre große Berechtigung hat.“
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