Gesellschaft & Wissen

Nichts wird so sein, wie es war

Aus ff 16 vom Donnerstag, den 16. April 2020

Ulrich Ladurner
Ulrich Ladurner, 58 und gebürtiger Meraner, arbeitet seit 1999 als Auslands­redakteur bei der Wochenzeitung Die Zeit, seit circa vier Jahren als Europa-Korrespondent in Brüssel. © Privat
 

Das Virus hat dem Journalismus die sinnliche Grundlage entzogen. Aber gerade jetzt sind zuverlässige Informationen überlebenswichtig. (von Ulrich Ladurner)

Journalismus lebt von der Begegnung, von Gesprächen, Geräuschen und Gerüchen. Im Journalismus ist die sinnliche Erfahrung unersetzbar, das trifft auch auf die Arbeit eines Korrespondenten in Brüssel zu. Und auf die Berichterstattung über die Brüsseler Institutionen. So fern sie den Bürgern Europas manchmal scheinen mögen, so hölzern, kompliziert und abweisend sie auch wirken mögen, so sehr sind sie doch menschengemacht. Und das ist es ja, was Journalismus im Kern ist: Der Bericht von Menschen, wie und warum sie was tun, wie und warum sie was unterlassen, was sie hoffen, erwarten und fürchten. Dazu braucht es die Anschauung, dazu muss man sich nahe kommen. Genau das ist in Zeiten der Pandemie nicht mehr möglich, kein Kontakt mehr, kein persönliches Gespräch.

Wir unterhalten uns mit unseren Gesprächspartnern nur mehr über technische Hilfsmittel. Manchmal ist unser Gegenüber nichts weiter als eine Stimme am Telefon, und es ist schwer, aus ihrem Klang Rückschlüsse zu ziehen auf das Nicht-Gesagte; manchmal sehen wir unseren Interviewpartner auf einem Bildschirm erscheinen und wir versuchen, seine Mimik zu lesen oder den Details im dargestellten Raum etwas abzugewinnen, was uns weiterbrächte in der Einschätzung und Beurteilung des Gesagten. Das fühlt sich an, als würde man in einer Kristallkugel lesen. So als wären wir über Nacht von Journalisten zu Kaffeesatzlesern degradiert worden, von Analytikern zu Wahrsagern.

Das Virus also hat dem Journalismus die sinnliche Grundlage entzogen. Das ist eine erschütternde Einsicht. Doch gleichzeitig kann Journalismus nicht einfach aufhören, schon gar nicht in einer Zeit, in der alle Menschen so direkt vom Virus bedroht sind wie heute. Gerade jetzt sind zuverlässige Informationen buchstäblich überlebenswichtig, gerade jetzt brauchen wir Beschreibungen dessen, was ist: In den Krankenhäusern, wo Ärztinnen und Krankenpfleger um das Leben ihrer Patienten kämpfen, trotz mangelnder Schutzausrüstung, und daher erhebliche Gefahren für die eigene Gesundheit auf sich nehmen; in den Familien, die sich nie hätten vorstellen können, dass sie mitten in unseren liberalen Gesellschaften wie Gefangene in den eigenen vier Wänden leben und lernen müssen, auf engstem Raum miteinander auszukommen. Wir müssen wissen, was ist in den Regierungszentralen, wo Politiker Entscheidungen treffen, deren Tragweite sie selbst nicht abschätzen können, weil sie – wie wir – noch nie in einer Lage wie dieser waren.

In diesen Tagen der Pandemie liegt etwas Gespenstisches über den Gebäuden der europäischen Institutionen. Wo es gerade noch summte wie in einem Bienenkorb, hat sich gähnende Leere breit gemacht, und es ist sehr, sehr still geworden. Nur das Heulen von Sirenen liegt als ­Dauergeräusch über der Stadt. Ob das gerade eben gehörte Heulen in Verbindung steht mit dem Virus? Ob es einen Patienten in ein Krankenhaus bringt, wo vielleicht kein Beatmungsgerät zur Verfügung steht, das ihm das Leben retten könne? Oder liegt in dem Rettungswagen, der eben vorbei gerast ist, vielleicht jemand, der sich beim Sport einen Arm gebrochen hat?

Die Sehnsucht nach dem Alltäglichen ist so groß, dass einem die Sinne einen Streich spielen. Möge doch alles bald vorbei sein und wieder genau so werden wie vor dem Ausbruch der Pandemie, genauso friedlich, genauso langweilig. Die Beamten der Brüsseler Institutionen arbeiten so, als würde es kommen, sie schreiben Gesetzestexte, die dem Kampf gegen die Klimaerwärmung helfen sollen, sie besprechen Verordnungen über die Verwendung von Plastik, justieren Paragraphen einer künftigen Migrationspolitik, – sie tun so, als würde der Tag X kommen, und als würde dann das alte Räderwerk wieder in Gang kommen, knackend und knirschend zuerst, aber doch würde es uns voranbringen, in eine bessere Zukunft.

Und wir Journalisten versuchen, darüber zu berichten, von dem nagendem Zweifel erfasst, dass nichts mehr sein so wird, wie es einmal war, auch nicht die Arbeit des Korrespondenten in Brüssel.

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