Das Amt für Arbeitsmarktbeobachtung rechnet für April mit düsteren Zahlen.
Gesellschaft & Wissen
Virtuell narrisch werden
Aus ff 16 vom Donnerstag, den 16. April 2020
Die Isolation bietet Gelegenheit zur Einsicht und Umkehr. Meine Erkenntnis bisher: Die gute alte reale Welt ist weit besser als ihr Ruf.
"Auch isoliert gut informiert." Je länger die Isolation dauert, desto öfter ertappe ich mich dabei, diesen Spruch zu hinterfragen. Was heißt hinterfragen? Ich hasse den Spruch. Denn was, bitte sehr, soll toll sein an dieser Isolation?
Ja sicher, ich genieße die Ruhe, wenn ich auf die Terrasse gehe, den Rauch meiner Zigarette in die Luft blase und die Rienz höre. So etwas geht üblicherweise im Grundrauschen des Straßenverkehrs unter. Ich kann mich nicht daran erinnern, je die Rienz gehört zu haben. Herrlich, diese Stille.
Gestern Abend habe ich eine Runde durch’s Dorf gedreht – und bin keiner Menschenseele begegnet. Zero. Auch auf der Pustertalerstraße kein einziges Auto und am Himmel kein einziger Flieger. Eine Stille, die zunächst einmal angenehm und schön ist. Gleichzeitig rumort es in meinem Kopf: Will ich das wirklich?
Denn außerdem ist es ja so: Je stiller das reale Leben, desto lauter das virtuelle. Ich habe noch nie so viel telefoniert wie in diesen Wochen (sogar per Video, mit mehreren Leuten gleichzeitig), noch nie so viel im Internet gesurft. Ich lese online die Zeitung, chatte online, kaufe online ein (übrigens ein herrliches Stockfischgröstl), sogar online gewattet habe ich. Ich frage mich, was ich wohl sonst noch alles online anstellen täte, wenn ich Single wäre.
Isoliert gut informiert? Tatsächlich? Gefühlt die meiste Zeit verbringe ich damit, den vielen unsäglichen Mist auszusortieren, der im Internet kursiert. Wenn ich daran denke, dass zu jeder Tages- und Nachtzeit Millionen von unsereins – Alte, weniger Alte, Jugendliche, Kinder – nichts anderes tun, als auf einem Bildschirm herumzuscrollen, sich mehr oder weniger witzige Bildchen, Videos und Nachrichten (?) hineinziehen, sie liken, haten, mit diesen komischen (?) Emoji versehen und dann weiterschicken an Leute, die das Zeug weder bestellt noch je erträumt haben: puh!
Sieh das doch mal positiv, du alter Nörgler, sag ich mir dann. Was ist denn schlecht daran, wenn wir alle lernen, mehr online zu leben, mehr online zu arbeiten? Davon könnte doch, so behaupten ja Wissenschaftler, sogar die Umwelt profitieren: weniger Autos auf den Straßen und so. Und überhaupt: weniger Globalisierung, mehr Regionalität, weniger Raubtierkapitalismus, mehr Wohlfühlnachhaltigkeit. Kurzum: Weniger ist mehr, small is beautifull.
Aber dann lese und höre ich online wieder lauter so Zeug, das mich zunächst konfus und dann richtig narrisch macht: Irgendwelche Promis, die so tun, als verstünden sie etwas von Medizin, Schauspieler, die „Wege aus der Krise“ aufzeigen, Forscher, die Zusammenhänge herstellen zwischen Pandemien und Klimawandel; Wissenschaftler, die das genaue Gegenteil davon sagen, was andere Wissenschaftler sagen ... Ich staune, wenn am Ende eines Berichtes des ZDF-Auslandsjournals die Botschaft verkündet wird (ich musste zweimal hinhören): „Hoffentlich kehrt die Welt, wie wir sie früher kannten, nie wieder zurück.“ Ich traue meinen Ohren nicht, wenn ich den Unsinn höre, den Sven Knoll & Co. dieser Tage verzapfen.
Was stellt das Coronavirus mit uns an, frage ich mich dann. Nutzen wir das Eingesperrtsein in der Onlineblase, um klüger, besonnener zu werden? Oder landen wir noch allesamt in der Klapsmühle, wenn das noch ein Weilchen so weitergeht?
Was mich anbelangt, sind die Ergebnisse der Quarantäne bislang bescheiden. Die einzige Lehre, die ich gezogen habe: Wenn es nicht gelingt, die reale Welt wieder in Gang zu setzten, und zwar möglichst subito, dann haben wir ein viel größeres Problem als das Virus.
Und ja, dabei nehme ich gern in Kauf, wenn ich während meinen Zigarettenpausen nicht mehr der Rienz lauschen kann. Denn jetzt, wo ich die Online-Welt kennengelernt habe, muss ich reuig anerkennen: So übel ist sie gar nicht, die reale Welt.
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