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Gesellschaft & Wissen

Schöne neue Welt - Teil 5/7

Aus ff 17 vom Donnerstag, den 23. April 2020

Schöne neue Welt
Die Kneipen gehen wieder auf, es wird wieder gelacht, geweint, gearbeitet und Fußball gespielt. Aber nicht nur das ... © ff Grafik/freepik
 

Wir schreiben das Jahr 2021. Die Coronakrise ist ­überstanden und hat vieles verändert. Ein nicht ganz ernst gemeinter Blick nach vorne – und zurück von Klemens Riegler. (Teil 5 von 7)

Im Spiel Wales gegen die Schweiz hat sich nach der Pause nicht mehr viel getan. Es war beim 1:1 geblieben. Nun werfen Hannes und Fritz den Grill an. Magda, Renate, Helga und meine Frau bringen Grillgemüse. Luis spannt den großen Sonnenschirm über dem Bildschirm auf, da die Wolken sich jetzt doch mehr verzogen hatten als angenommen.

Im Schatten dieses Schirms warten das gewürzte Grillfleisch und das Gemüse auf Änderung des Aggregatzustandes – von roh zu gar. Es riecht nach Grillparty, etwas zu grünem Holz und nach nassem Hundefell. Waldi war drüben beim Nachbar und scheint nicht verstanden zu haben, dass der Sprinkler nicht immer rundherum läuft, sondern auf Halbweg an den Startpunkt zurück springt.

Das Fleisch ist sehr gut. Wer war der Grillmeister? Da ertönt es schon aus Renates holder Kehle: „Wer gewürzt, in Öl gelegt und hergerichtet hat, fragt niemand? Nur die Männer, die ihrem Urinstinkt folgend ein Stück Fleisch von der einen auf die andere Seite werfen, sollen es dann gewesen sein. Typisch Männer!“

Alle lachen. Die Männer und Frauen stoßen an. Die einen mit Bier, andere mit Radler. Alles aus Mehrwegflaschen aus Glas, versteht sich. Dosen und Einwegflaschen sollten eigentlich verboten werden. Der Franz steht auf, greift in seine Brusttasche, zieht ein rotweißes Päckchen heraus, kippt mit dem Daumen den oberen Teil weg und zieht mit dem Mund ein circa 10 cm langes, weißes Papierröhrchen aus der Schachtel.

Er geht eine rauchen! Ich würde mitgehen, wenn er mir eine Zigarette spendieren würde, sage ich zu ihm. „Jo freilig!“, antwortet er. „Du Franz“, sage ich, „was macht du eigentlich jetzt, arbeitstechnisch?“ „I bin jetz gonz frei“, sagt er. Er sei jetzt ziemlich flexibel, spontan verfügbar ... der fixe Job von früher interessiere ihn gar nicht mehr.

Den ganz sicheren Arbeitsplatz gib es eh nicht mehr, da tue er lieber das, was ihm Spaß macht. Er verdiene etwas weniger, aber die Arbeitsmodelle hätten sich eben geändert. Oft helfe er noch bei einem Bekannten in einem Geometerbüro aus, aber noch lieber hilft er dem Huberbauer. Den kennt man in Bozen. Das ist ein Vorzeige-Bio-Betrieb, der über diverse Verkaufskanäle Gemüse, Salate, aber auch Kräuter und neben Wein jetzt sogar Getreide vertreibt.

Und wenn es sich grad anbietet – meint der Franz weiter – mache er auch Radtouren mit Touristen. Im Auftrag des Hotel Schuberbad. Neue Arbeitsmodelle sind in Mode gekommen. Kreatives Handeln und Denken ist jetzt gefragt wie nie zuvor.

Da fällt mir ein, wie dieser pensionierte Arzt und einige junge Tüftler in der Lombardei innerhalb weniger Tage eine Tauchermaske zu einem Beatmungsgerät umgebaut hatten. Sie hatten es sogar patentieren lassen, aber die Bauanleitung kostenlos ins Netz gestellt. In Krisenregionen wurden sie tausendfach eingesetzt.

Dazu muss man wissen, dass normale Beatmungsgeräte um die 100.000 Euro kosten. Wer möchte Kaffee?, hallt es aus der Küche. Die Antwort gibt ein mehrstimmiger Chor. Etwas später bringt Helga die erste Tranche, kurz danach folgt die zweite.

„Tranche“ ist so ein Begriff geworden, mit dem die Politik immer wieder Förderungen und Hilfsmaßnahmen angekündigt hatte. Er fand auch Verwendung, wenn es um Nachschub von Schutzausrüstung und später um die Lieferungen von elektronischen Fiebermessgeräten ging. An das Fiebermessen haben wir uns mittlerweile auch gewöhnt.

Wer nicht als „save II“ – also immun – klassifiziert war, wurde vor Krankenhäusern, Schulen und vielen anderen öffentlichen Einrichtungen mit diesen Fieberpistolen abgeschossen. Ab 37,5 Grad, hieß es wieder #IchBleibeZuHause. Zum Teil sind diese Geräte fix installiert und überwachen ganze Flächen ... zumeist mit Infrarot-Technik.

18:00 Uhr – Dänemark und Finnland laufen ein. Der Schiedsrichter pfeift an. Die Männer versammeln sich vor dem koreanischen LCD-Monster. Die Frauen unterhalten sich etwas abseits mit Themen, die Männer vielleicht weniger interessieren, oder über Dinge, die sie vielleicht besser nicht hören sollen.

Apropos Frauen. Die sind uns Männern jetzt noch mehr überlegen. Sie waren ja schon immer in der Mehrheit, aber an oder mit Corona sind statistisch mehr Männer als Frauen gestorben. Die Weltbevölkerung ist jetzt prozentuell also noch ein wenig weiblicher.

Finnland tut sich schwer gegen die überlegenen Dänen. Zur Pause steht es 0:2 und nun laufen die Nachrichten. Komprimiert geht es um die EM, das Geschehen in Berlin und das Weltgeschehen. Der Ausgang dieses Spiels war absehbar.

21:00 Uhr. Jetzt werde es lustig, meint Fritz. Endlich „a gscheids Spiel“, sagt er. Wobei, wenn ich mir das so ansehe, machen weder Belgien noch Russland große Sprünge. Die Mannschaften scheinen einander abzutasten, wobei Belgien vorne immer wieder äußerst gefährlich wird. Kurze präzise Pässe und kurze Wege scheint die Strategie der Belgier zu sein.

Im Prinzip genauso, wie auch unsere Wirtschaft wieder auf die Beine gekommen ist. Kurze Wege, regionale Kreisläufe und Wertschöpfung vor Ort sind angesagt. Wobei es leider immer noch die gewissen „Furbi“ – auch unter den Bauern – gibt, die zu ziemlich überhöhten Preisen auf Märkten und im Internet ihr Unwesen treiben.

Die stören mich bedingt. Mehr ärgere ich mich darüber, dass sich die seriösen Anbieter und die Verbände nicht zu Wort melden. Niemand sollte sich in Zeiten wie diesen darauf hinausreden, dass es überall Schwarze Schafe gibt. Es ist deren Aufgabe, diese Schafe aufzuspüren und zu entfernen, wenn sie nicht in denselben Topf geworfen werden wollen. Das wäre transparent und würde gewissen Marken wieder zu „Wert“ verhelfen.

Das Spiel ist aus, es ist fast elf. Die ersten ziehen Leine, einige helfen noch beim Aufräumen. Das dauert. Um Mitternacht, es ist noch warm, angenehm ruhig, leicht bewölkt, bedanken wir uns bei den Gastgebern und bei jenen, die irgendetwas mitgebracht hatten, und verabschieden wir uns. Nach wie vor im vorgeschriebenen Sicherheitsabstand.

Es war ein schöner Tag. Ich bin dankbar für die Gesellschaft, für die Freunde, für die Freude, für die Gemeinschaft, für die Ablenkung, für das Essen, für das Bier. Und für den Spaß, der in den letzten Monaten doch etwas zu kurz gekommen ist und noch immer Aufholbedarf hat.

Ja, ich danke für diese zu 85 Prozent wiedergekehrte Normalität, die rückblickend wichtiger als alles andere ist. Wir hatten uns an gewisses Verhaltensmuster fast schon gewöhnt. Wir waren ein wenig in einer Psycho-Narkose, in einer Schreckstarre. Wir wussten nicht, was kommt. Es gab nur Virologen, Politiker und andere Experten, die sich wochenlang bemühten, in Sachen Zukunft schlicht nur zu reden, ohne dabei etwas zu sagen.

Alle sagten uns nur, was wir gerade jetzt zu tun hätten: #ZuHauseBleiben, Masken tragen, Abstand halten, soziale Kontakte unterbinden. Wobei „Social“ schon lange nichts mehr mit „persönlichem“ Kontakt am Hut hatte.

Soziale Kontakte vermeiden, hat es geheißen, und zugleich sollten wir Eltern und andere Menschen anrufen. „Ja, was denn nun?“ hab ich mich dann öfters gefragt. Wir hatten natürlich alle verstanden, was gemeint war, aber trotzdem.

Meine Frau und ich steigen in den Bus. Sie hat fast keinen Alkohol getrunken, im Gegensatz zu mir, also versucht sie mit dem Schlüssel – rechts drehend – den Motor anzuwerfen. Er tut, was von ihm erwartet wird. Ganz undemokratisch. Auf Befehl. Und bringt uns #NachHause.

Beim Einschlafen gehen mir dann noch einige Gedanken durch den Kopf. Ich bin froh, über die Runden zu kommen, vorläufig überlebt zu haben und bisher noch nicht krank geworden zu sein - mit dem Risiko bleibende Lungenschäden davon zu tragen. Es kann mich aber immer noch erwischen. Und wer weiß, wann Sars-Cov-3 die Runde um den Erdball macht. Oder irgendeine andere Katastrophe, die uns so unerwartet und unvorbereitet mitten ins Herz trifft.

Ja, wir sollten mehr Acht geben, ein Auge auf diese Welt haben, genauer hinschauen, nicht wegschauen. Aufstehen gegen Tendenzen, die menschenverachtend sind, das Wort ergreifen für die Schwächeren, die mehr als wir in der Krise zu leiden haben. Weltweit meine ich.

Wir sollten zufriedener sein, bescheidener, dankbarer. Speziell wenn wir anderen damit helfen, ebenfalls zufriedener und ein wenig glücklicher sein zu können. Ich danke Gott – oder wie immer dieser große Geist auch heißen mag. Und ich danke dem heiligen Geist, den ich schon immer als Kollektiv von vielen guten menschlichen „Geistern“ bezeichnet habe. Im Sinne von: Wenn Millionen von Menschen an das Gute glauben, dann wird es gut. Dann ist es gut.

Das alles ist etwas kompliziert, vielleicht zu philosophisch. Der Puls schlägt ruhiger, mein Körper sehnt sich nach Ruhe, nach Pause, nach Erholung, nach Schlaf. In Erwartung eines nächsten, guten Tages.

An diesem nächsten Tag wird einiges passieren. Was? Erfahren Sie morgen in Teil 6.

Klemens Riegler, 52, aus Bozen, ist Unternehmer für Messe- und Bühnenbau, Veranstaltungstechnik, sowie Musik­kritiker. Den Text hat er für dieses Magazin verfasst, weil er zurzeit viel Zeit zum Nachdenken hat. (Ungekürzte Fassung)

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