Gesellschaft & Wissen

Wenn zwei und zwei fünf machen

Aus ff 18 vom Donnerstag, den 30. April 2020

Alexander van Gerven
Alexander van Gerven © Privat
 

Mit einem kleinen Taumel hat doch schon vieles begonnen, denke ich mir. Ich war vom Sitzball meines Homeoffice gefallen.

Alexander van Gerven:

Geschichten, lehrt die Geschichte, werden meistens von Gewinnern geschrieben. Im Nachhinein lässt es sich prächtig dichten, mit Muße, mit dem gehörigen Abstand. Und was nicht passt, wird passend gemacht.

Nun, wir leben ja, dank des Virus, in historischen Zeiten. Die Chance, mich als Historiker zu beweisen! Ich kann jetzt feststellen, wie es wirklich ist, ganz eigentlich und ungeschönt, ohne Erzählstimme und nachträglichem Zuschnitt.

Von wegen.

Momente zerfließen wie Desinfektionsgel, das in die Mühlen pflichtbewusster Handballen gerät. Der sicher geglaubte Boden wackelt, Tage gleichen sich aneinander an. Mittlerweile sind schon über eineinhalb Monate vergangen.

Dabei lassen sich doch zumindest die Wochen bestens strukturieren, oder? Wer kennt sie nicht, die Phasen der Quarantäne: Zuerst wird entrümpelt, rausgerissen und geschmissen. Platz für Neues. Dann wird getüftelt, gewerkelt und montiert. Die Malphase. Das große Gartln. Die noch größere Küchenschlacht. Vogelschau. Alles, was – lokal begrenzt – unter „hon i ollm schun amol“ fällt.

War das aber nicht immer schon so?, frage ich mich. Wann genau hat diese phasenweise Zeit angefangen? Laut dem italienischen Premier Giuseppe Conte gibt’s gerade erst, wenn überhaupt, die zweite Phase! Ich taumle auf meinem Sitzball. Sitzbälle sollen gut für den Rücken sein, heißt es. Sie fördern aktives Sitzen. Noch nie bin ich aktiver gesessen. Nebenbei lässt sich mein Sitzball bei wütendem Bedarf bereitwillig durch das Homeoffice schleudern, ohne dass ich mir den Fuß breche. Eine runde Sache. Die fehlenden Kanten lassen halt manchmal taumeln.

Vielleicht haben diese Verwirrungen damit zu tun, dass ich im Laufe des Lockdowns zielsicher zu einem bestimmten Mittel gegriffen habe: George Orwell. 1984 wollte ich mir vorknöpfen.

Wie sich herausstellt, verlief das mit dem Vorknöpfen allerdings eher umgekehrt. Ehe ich mich versah, befand ich mich nicht mehr im behaglichen Südtirol, in meiner mühsam mindestens 1984 Mal neu geknüpften Hängematte (bei allen Vorzügen: ein Balkon ist kein Wald), sondern mitten in der Dystopie.

Ein dunkler Hubschrauber fliegt durchs Tal, ich springe auf, gestikuliere wild in seine Richtung. Auf der Stelle dreht er um! Ich flüchte ins Haus, bin mir sicher, jetzt haben sie mich. Der Hubschrauber wird lauter, kommt näher ... Fliegt weiter. Tags darauf fährt ein Militärwagen ins Dorf, erwischt uns jäh, im Unkraut stehend. Gerade genug Zeit, die Guerilla-Bandanas hochzuziehen. Wieder ziehen sie vorüber.

Sie haben mich nicht! Aber hat es mich? Bin ich verrückt, oder ist es ein Film, der hier spielt? Das ist ja die Frage, die sich Winston, der Protagonist in Orwells Roman stellt. 2+2=4 – immer und überall, egal was passiert und gesagt wird. Oder?

Nein: Kommt ganz auf den Kontext an. Auf welche Weise Winston das in 1984 lernen muss, sei an dieser Stelle besser nicht rekapituliert. In Zeiten des Virus aber interessiert mich eine andere Interpretation dieser Gleichung. Ich vernehme nämlich gerade, paranoid oder nicht, wieder felsenfeste Meinungen, die gerade das zu verkünden scheinen: Zwei und zwei könne nun mal nicht fünf sein. Alternativlos.

Für Mathematik interessiere ich mich im Speziellen nicht. Auch nicht dafür, hinter Hubschraubern obskure Schergen zu vermuten. Daran wird weder Orwell noch das Virus rütteln. Mich fasziniert aber zu sehen, wie leicht es ist, Dinge zu verändern. Wie leicht es wäre: Davon wegzukommen, dass zwei und zwei fünf – oder vier – machen muss.

Wie genau, wird dann wohl die Geschichte zeigen. Die, die sie schreiben können, müssen vielleicht keine Gewinner sein. Und die, die sie lesen, keine Verlierer.

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