Interview in ff 26/20 mit Brigitte Foppa, Fraktionssprecherin der Grünen im Südtiroler Landtag
Gesellschaft & Wissen
„Das Simple ist das Wahre“
Aus ff 28 vom Donnerstag, den 09. Juli 2020
Fast jede freie Minute verbringt Erika Pallhuber auf der Alm. Hier findet sie „das Gegenteil“ jenes Lebens, das sie üblicherweise führt. Ein Besuch auf der Patscheralm.
Wie im Bienenkorb: So in etwa kann man sich den Arbeitsplatz von Erika Pallhuber im Biathlon-Zentrum in Antholz vorstellen. Wenn sie im Dienst ist, ist die Generalsekretärin des OK-Komitees ist „auf hundert“: Das Telefon klingelt unaufhörlich, der eine will das, die andere jenes. Mal ist hier Hand anzulegen, mal brennt es lichterloh.
Für Fans findet Biathlon in Antholz nur in einer Woche im Winter statt, hinter den Kulissen wird aber bereits ab Frühjahr daran gewerkelt, dass alles passt, wenn es losgeht – und „die Erika“, wie sie hier genannt wird, ist die Seele von Antholz.
Das Treffen findet an jenem Ort statt, wo sie meistens ist, wenn sie nicht im Biathlonzentrum anzutreffen ist: auf ihrer Almhütte im Defereggental auf der anderen Seite des Staller Sattels.
Dieser Sommer ist – coronabedingt – anders als die Sommer zuvor. Normalerweise verbringt Erika Pallhuber mehrere Wochen auf der Alm, heuer ist das nicht möglich. Wegen des Lockdowns stand die Arbeit im Biathlonzentrum still – und muss jetzt nachgeholt werden. Für die Alm bleiben deshalb nur die Wochenenden.
„Besser als nichts“, sagt sie und erzählt, warum es sie so oft auf die Alm zieht: „Hier entschleunige ich. Das Leben hier ist das Gegenteil jenes Lebens, das ich üblicherweise führe. Langsamer, stiller, natürlicher. Ohne die Alm ... also ich wüsste nicht, wie ich das alles derpacken würde.“
Die Patscheralm befindet sich schon seit Großvaters Zeiten in Familienbesitz. Damals gehörte hier alles noch zur Habsburger Monarchie, die Antholzer Bauern trieben im Sommer ihr Vieh über den Stallersattel ins Defereggental auf ihre Almen. Das ist auch heute noch so, auch wenn mittlerweile die Vieher mit LKWs über die Grenze nach Österreich gebracht werden. Eine Hirte kümmert sich um die Tiere der Gemeinschaftsalm.
Erika war sechs, als sie das erste Mal ihren Vater Paul beim Übertrieb begleiten durfte. Da gab es dann in der Gastwirtschaft gleich unterhalb der Alm zur Belohnung ein Würstel und eine Aranciata, was für sie, die kleine Gitsche, „ein gewaltiges Erlebnis“ war, an das sie sich heute noch erinnert.
Auf dem Hof der Pallhubers in Antholz wuchsen sechs Mädchen und ein Bub auf. Für Erika war früh klar, dass sie etwas anderes als die Landwirtschaft anpeilen musste. Es zog sie in die Welt der Medien: 1992 begann sie bei der Südtiroler Wirtschaftszeitung (SWZ) und nach bestandener Journalistenprüfung schien einer Karriere in Bozen nichts mehr im Wege zu stehen. Aber es kam anders.
Am 4. Juni 1995 wurden sämtliche Lebensplanungen in der Familie über den Haufen geworfen – durch den Selbstmord des 19-jährigen Kurt Pallhuber, Erikas geliebten Bruder,
In jenem fürchterlichen Sommer, der die Familie in einen Schockzustand versetzte, ging Erika zurück nach Antholz. „Völlig planlos“ habe sie damals Bozen und das Leben, das sie dort vor sich glaubte, zurückgelassen. Und jetzt?
Im Februar 1995 fanden in Antholz die Biathlon-Weltmeisterschaften statt, der damalige OK-Chef Franz Rieder hatte sie gefragt, ob sie nicht im Pressebüro aushelfen könnte. Wahrscheinlich hat das Aushelfen Eindruck gemacht. Rieder fragte sie, ob sie den Job nicht dauerhaft übernehmen wolle. Erikas Antwort: „Dauerhaft? Probieren wir’s.“
Die Rückblende auf jene Zeit wühlt sie immer noch emotional auf. Zum einen kommt in ihr „eine unendliche Trauer“ hoch wegen des Verlustes ihres Bruders. Zum anderen ist da diese List des Schicksals, ohne die Erika Pallhuber nicht geworden wäre, was sie heute ist: „Schon verrückt, aus diesem ‚Probieren wir’s mal‘ sind 25 Jahre geworden.“
Die Antholzer Biathlon-Welt war damals noch „winzig im Vergleich zu heute“, im Büro arbeiteten zwei Leute, und sogar dies hielten Außenstehende für eine maßlose Überbesetzung: Was die beiden wohl das ganze Jahr tun?
Es sollte nicht lange dauern, bis solche Fragen nicht mehr gestellt wurden. Denn 1997 kam mit Gottlieb Taschler ein OK-Chef, der – wie Erika Pallhuber erzählt – „die ganze Sache auf eine höhere Ebene gestellt“ habe. Taschler, der sich wegen einer nie völlig geklärten, aber ihn kompromittierenden Doping-
affäre rund um seinen Sohn aus der Biathlonszene verabschieden musste und ein Gasthaus am Staller Sattel führt, sei „ein richtiger Macher“ gewesen, ausgestattet mit „enormen Führungsqualitäten“ und „immer mit Mut für Neues“.
Biathlon, getragen vom Boom in Deutschland und gepusht von ZDF und ARD, die das Potenzial dieses Sports erkannt hatten, wurde groß und größer. Und als dann 2007 Antholz wieder Austragungsort der Weltmeisterschaft wurde, war aus dem beschaulichen Ort plötzlich einer der Biathlon-Hotspots geworden – fast schon auf einer Ebene mit Ruhpolding.
Taschler war der Macher und Frontmann, Erika Pallhuber, die 2007 zur OK-Generalsekretärin aufstieg, seine rechte Hand: von der Betreuung der Journalisten im Medienzentrum bis zur Organisation des Rahmenprogramms, vom Ticketverkauf bis zu all dem Kleinkram rundherum und dem Unvorhersehbaren. Und nicht selten war „die Erika“ bis zu 12 Stunden am Tag in ihrem Büro mit Arbeit eingedeckt.
Deshalb die Flucht auf die Alm? Es als Flucht zu bezeichnen, dagegen verwehrt sie sich. Die Arbeit gefalle ihr zu gut und sei zu interessant, um davor flüchten zu müssen. Erika Pallhuber: „Auf die Alm zu gehen, ist nichts anderes als ein tiefes Bedürfnis, Abstand zu nehmen von der Hektik und der sogenannten zivilisierten Welt. Auf der Alm lerne ich, dass die Arbeitswelt, dieses Rad, in dem wir stecken, oft überbewertet wird. Auf der Alm erfahre ich, dass das Simple das Wahre ist. Eine wie ich, die den ganzen Tag mit Leuten und am Telefon quatschen muss, kann hier einfach mal still sein und muss niemandem zuhören. Hier kriege ich den Kopf frei, hier kann ich Abstand gewinnen, viele Dinge klarer sehen.“
Während sie ein Brettl mit Käse und Speck und einen kanadischen Weißburgunder – ein Gastgeschenk von Biathlonfreunden – auf den Tisch stellt, erzählt Erika, dass sie nicht immer von der Alm begeistert war: „Wenn man mir vor zwanzig Jahren gesagt hätte, verbring doch einen Sommer auf der Alm, dann hätte ich geantwortet, was soll ich auf der Scheiß Alm? Inzwischen denke ich anders.“
Geändert habe sich das, als sie nach dem Tod ihres Vaters Paul im Jahr 2014 die Verantwortung für die Alm übernahm, die eigentlich eine ihrer Schwestern geerbt hat. Das Vieh ist längst verkauft, das Jungvieh, das im Defereggental den Sommer verbringt, gehört Antholzer Bauern. Als Aufpasser wurde ein Hirte aus der Gegend engagiert. Zu Erikas Aufgaben gehört es, die rund 200 Jahre alte, malerisch gelegene Hütte in Schuss zu halten und das Gras zu mähen. Bei dieser Arbeit helfen ihr von Jahr zu Jahr mehr Leute: „Ärzte, Rechtsanwälte, Lehrer, einmal hier herauf kommen und bei der Mahd zu helfen, ist für sie etwas Besonderes.“
Während es im Hochsommer drüben rund um den Antholzer See vor Touristen nur so wimmelt, verirren sich nur vereinzelte Wanderer in die obere Hälfte des Defereggentals. Wer von Erikas Patscheralm rund zwei Stunden lang taleinwärts wandert, erreicht das Almdorf Jagdhaus. Von dort gelangt man über das Klammljoch und die Knuttnalm nach Rein im Ahrntal.
Das Gespräch wechselt verdächtig oft von der Almromantik in den Arbeitsalltag. So ganz scheint Erika Pallhuber den Job hier oben doch nicht loszuwerden – zumal in diesem verrückten Jahr, in dem sowieso alles anders ist als üblicherweise. Sie entschuldigt sich sogar dafür und sagt, Covid-19 habe heuer „alles durcheinandergewirbelt“. So beginnt etwa der Ticketverkauf für das Weltcup-Wochenende, das 2021 vom 18. bis zum 24. Jänner stattfindet, normalerweise bereits am 1. Juli. Heuer hat man den Termin vorsichtshalber auf den 1. September verschoben. Da niemand sagen könne, ob und vor allem wie die Veranstaltung abgewickelt werden kann, müsse man auf alle Eventualitäten vorbereitet sein.
„2007 glaubten wir eigentlich, den Peak erreicht zu haben“, erzählt Erika Pallhuber, „wir glaubten, mehr geht nicht.“ Aber dann kam Dorothea Wierer. Jung, fesch, erfolgreich – und auch noch aus Antholz. Dank Wierer entdeckten jetzt auch die Italiener den Biathlonsport, die großen Blätter widmeten „Doro“ seitenweise Fotostorys. Mit Wierer kletterte Antholz noch mal eine Stufe höher – bis zur WM im heurigen Februar.
„Mein Gott, was für ein Glück wir da hatten!“ Erika Pallhuber rauft sich ihre rot-blonden Wuschelhaare, wenn sie an die WM zurückdenkt. Nur eine Woche später, und man hätte die Mega-Veranstaltung mit insgesamt 165.000 Besuchern absagen müssen: „Das wäre der Super-GAU gewesen, für uns, für den Sport, für die Gäste, für das gesamte Pustertal.“ Aber so schlüpfte man gerade noch.
Und vermutlich, weil der Großteil der Fans aus Mittel- und Nordeuropa kam und nicht aus dem Süden, blieb man auch vor Infek-
tionen verschont. „Obwohl gemunkelt wurde, dass wir das nur vertuscht hätten. Stattdessen muss man einfach sagen: Wir hatten Glück, fast schon unverschämtes Glück.“
Eine Frau allein auf der Alm? Eine Frau inmitten der männerdominierten Biathlonszene? Erika Pallhuber antwortet prompt: „Ich weiß schon, worauf die Frage hinausläuft. Nein, ich bin keine Feministin, oder nicht das, was man allgemein darunter versteht. Ich glaube, wenn eine Frau gut ist, dann schafft sie es auch ohne Quote. Aber freilich muss sie auch beißen können. Inmitten von Männern muss ich auch mal hart sein können. Und wenn ich dann zeige, was ich drauf habe und auch auf den Tisch haue, wenn es sein muss, dann sind die Männer oft richtig baff.“ Andererseits habe sich die Szene der Sportfunktionäre letzthin gewandelt: „Die allermeisten Männer haben gelernt, dass das Macho-Getue außer Mode gekommen ist.“
Es ist Zeit für die Rückreise. An diesem Tag muss Erika Pallhuber noch ins Büro. Am Wochenende wird sie wieder auf der Alm sein – zum Mähen. Auf was sie sich besonders freue, wollen wir zum Abschied noch wissen: „Auf den Herbst. Wenn die Lärchen im gelben Licht erstrahlen, ist es hier am schönsten.“
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