Gesellschaft & Wissen

Petra und Alexa wollen arbeiten

Aus ff 45 vom Donnerstag, den 11. November 2021

Leere Werkstätten
Leere Werkstätten, leere Gänge: Die Werkstätten in der Seeburg mussten für drei Wochen geschlossen werden, jetzt sind sie tageweise wieder offen. Eine Notlösung. © Ludwig Thalheimer
 

In Südtirol gibt es über 60 Einrichtungen, die sich um Menschen mit Beeinträchtigung kümmern. Einigen droht die Schließung, weil sich ­Mitarbeiter nicht impfen lassen wollen. Ein Drama mit Ansage.

Vor drei Wochen musste das oberhalb von Brixen gelegene Sozialzentrum Seeburg seine Werkstätten wegen Personalmangels schließen. Der Grund: die Impfpflicht. Wer in sozialen Einrichtungen arbeitet, muss sich laut Gesetz impfen lassen. Das gilt auch für Wohnheime mit Menschen mit Beeinträchtigung, das gilt damit auch für die Seeburg, eine der größten Einrichtungen dieser Art in Südtirol.

Dabei ist noch gar kein Mitarbeiter suspendiert worden. Doch mit der Impfpflicht stiegen plötzlich die Krankschreibungen, außerdem sind sieben Mitarbeiter unentschuldigt abwesend, sie sind nicht mehr zur Arbeit gekommen.

Für die Familien, deren Kinder in der Seeburg arbeiten, ist das ein Drama. Denn Menschen mit Beeinträchtigung benötigen Betreuung und Begleitung. Wie viel, hängt vom Grad der Beeinträchtigung ab, bei Petra und Alexa sind es 24 Stunden am Tag, 7 Tage die Woche. Die jungen Frauen, beide Anfang 20, können nicht allein gelassen werden.

Es ist ein Donnerstagvormittag im Brixner Lidopark.
Micaela Senoner sieht nicht aus wie eine Rebellin, wie eine, die schnell protestiert. Aber vor einigen Tagen hat die Schulwartin eine Mail an Landesrätin Waltraud Deeg geschickt. Senoner sagt: „Ich bin am Limit.“ Ihre Tochter Petra ist beeinträchtigt, sie sitzt neben ihrer Mutter. Auf der anderen Seite des Holztisches sitzen Elisabeth Tasser und ihre Tochter Alexa, auch sie ist beeinträchtigt. Sie haben auch Wally Hinteregger mitgenommen, ihr Sohn besucht den Tagesförderbereich an der Seeburg, der seit einigen Tagen zumindest teilweise wieder geöffnet hat. Es ist der Bereich, an dem die Menschen mit einer schweren Behinderung betreut werden.

Es ist nicht klar, ob Petra und Alexa alles mitbekommen, was ihre Mütter sagen, oder ob sie sich ganz woanders, in ihrer eigenen Welt befinden. Manchmal heben sie den Blick, lächeln kurz oder drehen den Kopf zur Seite, weil sie jemanden gesehen haben, den sie kennen. Am Gespräch können sie nicht teilhaben, dabei dreht sich das gesamte Gespräch um die beiden. So wie sich das ganze Leben der drei Mütter um ihre beeinträchtigten Kinder dreht. In den vergangenen drei Wochen wurde Petra abwechselnd von ihrer Mutter, einer Nachbarin, dem Hauspflegedienst, dem Vater oder der Tante gepflegt, jeder Tag muss genau geplant, penibel organisiert werden.

In der Seeburg arbeitet man seit Wochen im Notfallbetrieb. Die Werkstätten, in denen Petra Tee in Tüten abfüllt und Alexia Feueranzünder aus Holz herstellt, blieben leer. Die Betreuer, die hier arbeiten, mussten in das Wohnheim wechseln. Eine 24-stündige Betreuung aufrechtzuerhalten, das hat oberste Priorität. Viele der Bewohner haben keine Angehörigen mehr oder diese sind zu alt, um sich um ihre Kinder zu kümmern.

Die Stimmung unter den Eltern ist angespannt, der Ton rauer geworden. Auch Alexa und Petra sind unausgeglichen und unruhig. Petra hebt leicht ihren Blick und sagt „Seeburg“ zu ihrer Mutter. Nur dieses eine Wort, „Seeburg“. Aber wie sie es sagt, hört man sie ganze Sätze sagen. Petra und Alexa vermissen ihre Freunde, ihre Arbeit, sie vermissen den Alltag mit seinen Rhythmen, die für die beiden so wichtig sind.

Auch der Alltag von Elisabeth Tasser, einer Krankenpflegerin, war schon immer ein Balanceakt zwischen Alexa, Arbeit und allem anderen. Ihre Tochter sitzt jetzt oft vor dem Fernseher. Lösung ist das keine, aber es geht nicht anders. Menschen mit Beeinträchtigungen befanden sich die vergangenen Wochen wieder im Lockdown. Elisabeth Tasser ist enttäuscht von denen, die sich nicht impfen lassen wollen. Auch viele der Eltern, die sich im Arbeitskreis Eltern Behinderter organisiert haben, sind verärgert, aufgeregt, traurig, mache auch entsetzt.

Während die drei Mütter im Brixner Lidopark ihren Frust ablassen, haben Mitarbeiter auf der Seeburg ein Blatt aus den Flipchartbögen herausgetrennt und auf den Boden in die Mitte des Sekretariats gelegt. Mit einem blauen Filzstift haben sie Namen und Uhrzeiten notiert, die immer wieder verändert werden müssen. Es ist der Schlachtplan von Carmen Messner und ihrem Team.

Die Leiterin der Seeburg ist eine Berufsoptimistin, man muss schon genau hinhören und hinschauen, um zu merken, wie sehr sie unter Strom steht. Sie und ihr Team haben ein klar definiertes Ziel: Am 8. November sollen die Werkstätten wieder geöffnet werden, zumindest für einige Tage die Woche. Messner wirkt fast schon verbissen, wenn sie sagt: „Wir müssen das schaffen.“

Einige Tage später klingt sie erleichtert, als sie am Telefon davon berichtet, dass die Seeburg tatsächlich an drei Tagen die Woche ihre Werkstätten öffnen wird. Mindestens einen Tag pro Woche können alle 47 Klienten zur Arbeit kommen, einige auch öfter. Es ist ein kleiner Erfolg, für den die Familien sehr dankbar sind. Ein bisschen Normalität, ein bisschen Erleichterung. Eine Notlösung bleibt es dennoch.

Carmen Messner ist stolz auf ihr Team, der Zusammenhalt ist noch immer stark. Aber sie weiß auch, dass die verbliebenen Mitarbeiter erschöpft sind. Die Arbeit in Wohnheim und Werkstatt bedeutet Turnus und Dienst an Wochenenden und Feiertagen. Messner weiß noch immer nicht, wie viele ihrer Mitarbeiter suspendiert werden, wenn alles so läuft, wie sie es sich vorstellt, kann sie in den nächsten Wochen drei neue anstellen. Den Personalmangel in ihrem Haus kann sie damit aber nur leicht abfedern. Messner klingt nicht mehr ganz so optimistisch, wenn sie die Zahl der von ihr befürchteten Suspendierungen nennt. 10. Dabei bedeutet bereits ein einziger Ausfall große Schwierigkeiten bei der Aufrechterhaltung der Dienste. Die partielle Öffnung der Werkstätten täuscht nicht darüber hinweg, wie angespannt die Situation bleibt. Der Personalmangel ist nicht behoben, das Problem könnte sich mittelfristig sogar verschärfen. Und was für die Seeburg gilt, gilt für viele Einrichtungen in diesem Land.

In Südtirol gibt es über 60 öffentliche und private Strukturen, die sich um Menschen kümmern, die Hilfe brauchen, weil sie beeinträchtigt sind, an einer Abhängigkeitserkrankung leiden oder psychisch krank sind. Von den rund 1.400 Mitarbeitern sind mit Stand Ende Oktober gerade einmal 26 suspendiert. Und dennoch müssen bereits jetzt Schichtpläne wieder und wieder neu geschrieben werden.

Die Dienste am Brunecker Sozialzentrum Trayah mussten eingeschränkt werden, an der Tagesstätte Kimm in Kardaun werden weniger Klientinnen als üblich betreut. Das Gleiche gilt für die geschützte Werkstätte in Mühlen in Taufers oder den Bartgaishof in Vahrn. Die Zahl der Suspendierungen dürfte aber in den nächsten Wochen deutlich steigen.

Viele Eltern, die sich bei Angelika Stampfl melden, sind ratlos. Die Vorsitzende des Arbeitskreises Eltern Behinderter erzählt von Hilferufen, die sie erreichen.

Es wäre ein Leichtes, in dieser angespannten und schwierigen Situation der Politik Schuld an der Misere zu geben. Stampfl sieht das anders. Die Landesrätin wisse genau um die Problematik.

Aber tut sie auch etwas dagegen?

Waltraud Deeg verantwortet in der Landesregierung den Bereich Soziales. Sie sagt, sie habe die massiven Probleme kommen sehen und sich deswegen gegen eine generelle Impfpflicht und für die Anwendung der 3-G-Regel ausgesprochen. Mitarbeiter sollten die Möglichkeit haben, sich regelmäßig testen zu lassen. Ihr Vorschlag fand bei den anderen Regionen und der Regierung in Rom kaum Zuspruch, Südtirol steht in dieser Frage isoliert da.

Deeg setzt auf Flexibilisierung. Ende Oktober beschloss die Landesregierung, die starren Voraussetzungen zur Ausübung des Berufs des Sozialbetreuers aufzuweichen. So kann ein Pflegehelfer künftig die Aufgabe einer Betreuerin übernehmen. Das soll erst einmal Abhilfe schaffen. Für die dringend notwendigen Neuanstellungen fehlen aber die freien Arbeitskräfte. Und niemand weiß, ob ungeimpfte Mitarbeiter es sich doch noch anders überlegen und an ihren Arbeitsplatz zurückkehren. Die Situation ist sehr fordernd.

In einem offenen Brief erklärten vergangene Woche einige Schülerinnen der Landesfachschule für Sozialberufe Hannah Arendt, dass sie die Impfungen ablehnen würden. Dadurch könnten sie auch keine Praktika mehr an Sozialeinrichtungen absolvieren, ihre Ausbildung sei gefährdet.

Der Schauplatz ist beispielhaft, ein Teil des Personals fühlt sich allein gelassen, der andere unverstanden. Das Konfliktpotenzial und der Druck, der auf allen lastet, sind hoch.

Wie, zeigt ein Beispiel aus Bozen. Eine der drei Werkstätten der privaten Sozialgenossenschaft GWB sollte wegen Personalmangels diese Woche für anderthalb Tage schließen. Nun bleibt sie doch offen, weil es die Leitung der Werkstatt und der Verwaltungsrat so beschlossen haben.

Es sind auch diese Unsicherheiten, die Giulia Bulanti ermüden. Die 29-Jährige arbeitet seit fünf Jahren in der Werkstatt in der Josef-Mayr-Nusser-Straße. Fünf Betreuer plus eine Leiterin gehören zum Team, das sich um 33 Klienten kümmert, die hier Mitarbeiter genannt werden. Gerade arbeiten sie an der Fertigstellung eines großen Auftrages, sie montieren Schrauben für Heizungssysteme. Bulanti nimmt sich Zeit, wenn jemand eine Frage hat oder Hilfe braucht. Aber sie hat weitaus weniger Zeit, als sie möchte, und es die Mitarbeiter bräuchten. Von den ursprünglich sechs Betreuern fehlen zwei.

Einer hat gekündigt, eine andere wartet auf ihre Suspendierung. Auch die Zukunft einer dritten Person ist unklar. Eine sorgfältige, vorausschauende Planung ist da nicht mehr möglich. Das wirkt sich auf die Betreuung der Mitarbeiter genauso aus wie auf die Auftraggeber. Müsste die Werkstätte schließen, könnten dadurch Aufträge verloren gehen.

Die Werkstatt ist aber viel mehr als bloß Arbeit. Martina Figl ist 45 Jahre alt, stammt aus Kurtatsch und gehört zu den
33 Mitarbeitern. „Die Werkstatt“, sagt sie, „ist wie eine Familie.“ Martina ist am Montagmorgen froh, nach dem Wochenende endlich wieder in die Werkstatt gehen zu können.

Auch Giulia Bulanti mag ihren Job. Menschen, die im sozialen Bereich arbeiten, verfügen über ein hohes Maß an Motivation und Leistungsbereitschaft. Aber auch für Bulanti gibt es eine Schmerzgrenze, sie kann sie beziffern: drei. Sollten künftig nur noch zwei Betreuer in der Werkstätte arbeiten, muss auch sie sich Gedanken über ihre Zukunft machen: „Wer hier arbeitet, muss mental fit sein.“

Lukas Oberbacher sieht das genauso. Deswegen hat der 32-Jährige bei der GWB gekündigt. Das hat nicht nur mit Corona zu tun, denn bereits vor der Pandemie gab es Unstimmigkeiten mit seinem Arbeitgeber, die Impfpflicht war der letzte Auslöser, um das Team zu verlassen. Doch es war kein einfacher Schritt. Der psychische Druck, der auf ihn ausgeübt worden sei, damit er sich impfen lasse, sei letztendlich aber zu viel gewesen.

Das habe Spuren bei ihm hinterlassen, physische wie psychische. Dabei liebt auch er seinen Beruf, „aber mein persönliches Recht ist mir wichtiger“. Die Entscheidung, zu kündigen, ist ihm schwergefallen, er ist aber froh, sie getroffen zu haben. In den nächsten Wochen will er sich eine neue Arbeit suchen. Im sozialen Bereich will er künftig allerdings nicht mehr arbeiten.

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  • Menschen  mit Beeinträchtigung Waltraud Deeg Carmen Messner Wally Hinteregger, Mutter

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