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Aus ff 46 vom Donnerstag, den 18. November 2021

Sozialsystem
„Die Antwort war überall Nein“: Was tun, wenn ein naher Mensch Hilfe braucht und das Sozialsystem überfordert ist? © Freepik
 

Meine Großtante Paula braucht dringend Hilfe, aber im Altenheim gibt es keinen Platz für sie. Was tun? Die Chronik einer Odyssee durch das Gesundheits- und Sozialsystem.

Meine Großtante ist bald 92 Jahre alt und ledig, sie hat keine Kinder, sie lebt alleine. Nur mein Vater und seine zwei Schwestern und ich, ihre Großnichte, kümmern uns um sie. Bis vor zwei Monaten lebte Paula alleine in einer Sozialwohnung. Sie hatte ihren kleinen Garten, kochte, machte ihren Haushalt selber und erfreute sich ihres Lebens. Wir besuchten sie fast täglich und begleiteten sie zu Arztbesuchen oder zum Einkaufen, weil sie nicht mehr so gut zu Fuß ist. Sie hat ein paar Altersbeschwerden, etwa Diabetes oder Arthrose, aber sie kam gut zurecht.

Doch vor zwei Monaten machten uns die Nachbarn darauf aufmerksam, dass mit Tante Paula etwas nicht stimmt. Sie klingelte nachts bei den Nachbarn, hatte Angstzustände und Halluzinationen. Wir haben sofort reagiert und sie zu uns nach Hause geholt, die Ärzte kontaktiert, sie zur Untersuchung ins Krankenhaus gebracht. Dort hat man uns nach einer kurzen Visite abgewiesen. Wir sollten die Altenheime kontaktieren, hieß es. Tante Paula konnte nicht mehr alleine bleiben.

Da ich hochschwanger bin, fiel es mir schwer, das alles zu bewältigen. Noch dazu befanden wir uns mitten in der Ernte – Stress pur. Trotzdem haben wir fünf (meine Mutter, mein Vater, seine zwei Schwestern und ich – alle berufstätig und nicht mit der Pflege vertraut) versucht, unsere Tante bei uns daheim zu betreuen.

Leider verschlechterte sich ihr Zustand rapide. Sie schlief nicht, war aufgeregt, hörte weiter Stimmen und hatte Angst. Wir mussten uns dazu entschließen, Tante Paula in die Marienklinik zu bringen. Im Bozner Krankenhaus wollte sie niemand aufnehmen. Die empfohlene Therapie schlug nicht an. Ihr Zustand wurde täglich schlimmer, und wir wussten uns einfach nicht mehr zu helfen.

Wir hofften, dass sie in der Klinik medikamentös besser eingestellt würde, doch niemand von den Angehörigen durfte Tante Paula begleiten („wegen Corona“), um den Ärzten ihren Zustand zu schildern. Wie soll eine fast 92-jährige demente Frau mit Wahnvorstellungen und Halluzinationen ihren Zustand erklären? Nach drei Tagen konnte ich endlich mit dem behandelnden Arzt sprechen – per Telefon. Für Besuche durfte man nur für eine Viertelstunde mit Green Pass in die Marienklinik. Der Arzt erzählte mir, dass es der Tante den Umständen entsprechend gut gehe, sie könne freilich nicht mehr gut gehen und möchte ihren Hallux Valgus operieren lassen, aber er würde angesichts ihres Alters davon abraten.

Der Arzt wusste anfänglich weder über ihre Halluzinationen noch über die Medikamente, die sie verschrieben bekommen hatte, Bescheid. 340 Euro pro Tag (plus Mehrwertsteuer und die Kosten für Arzt und Medikamente) hat man uns in der Klinik in Rechnung gestellt. Nachdem ich den Arzt darüber aufgeklärt hatte, worum es eigentlich geht, nämlich um die Wahnvorstellungen und die beginnende Demenz meiner Tante, wurde die Therapie umgestellt. Nach einer erneuten psychiatrischen Visite im Krankenhaus Bozen wurde eine Demenz mit Psychose und Wahnvorstellungen diagnostiziert, und es wurden wieder die Medikamente gewechselt. Der Arzt dort verschrieb eine „dringende Aufnahme in einem Pflegeheim“.

In der Marienklinik hat sich Paulas Zustand zusehends verschlechtert, die Behandlung schlug nicht an, auch körperlich wurde sie immer schwächer, sie konnte kaum mehr alleine aufstehen. Wie auch, nach elf Tagen im Krankenbett ohne Bewegung?

Wir mussten Tante Paula wieder zu uns nach Hause holen. Das Geld wurde knapp. Unsere Tante bezieht nur eine kleine Rente und verfügt weder über Besitz noch Erspartes. In der Zwischenzeit haben wir, wie in so einem Fall nötig, ein Ansuchen auf Sachwalterschaft und um Pflegegeld gestellt. Wir haben alle Altenheime in der Umgebung kontaktiert. Alle Formulare (und das sind viele), Ansuchen und Befunde eingereicht. Mehrmals nachgefragt. Nie eine Antwort bekommen. Weder vom Amt für Sachwalterschaft noch vom Sozial- und Gesundheitssprengel.

Mehrmals haben wir versucht, direkt mit den Pflegeheimen zu sprechen und die Tante dort unterzubringen. Egal, wo wir gefragt haben, es kam überall dieselbe Antwort. Die Heime seien überfüllt, es gebe zu wenig Pflegepersonal, viele Pflegerinnen und Pfleger dürften nicht mehr arbeiten, weil sie nicht gegen Covid-19 geimpft seien. Es herrsche „Aufnahmestopp“.

Nach dieser erneuten Watschn hat es schließlich auch mich erwischt. Ich musste mit einer akuten Panikattacke ins Krankenhaus gebracht werden.

Meine Tante bedeutet mir sehr viel, und ich wollte alles versuchen, damit es ihr wieder besser geht. Sie hat es einfach nicht verdient, so im Stich gelassen zu werden, nachdem sie sich ihr ganzes Leben lang für andere aufgeopfert hat. Es wurde alles zu viel für mich. Ich wusste nicht mehr weiter und war an meine Grenzen gekommen.

Im Bozner Spital, nach der üblichen Prozedur, wurde ich dann zu einer
psychiatrischen Visite gebracht. Dort erzählte ich dem netten Herrn Doktor, was los ist. Reden hat ein wenig geholfen, mehr ist aber auch nicht passiert. Mir, der Schwangeren, wurde eine stationäre Aufnahme angeboten, weil mich die
Situation mit der Tante zu Hause so belastet. In derselben Abteilung, wo meine alte, dringend hilfsbedürftige Tante, um die sich niemand richtig kümmern kann, tags zuvor abgewiesen und nach Hause geschickt worden war.

Ich ging heim, mit dem guten Rat des Arztes im Ohr: „Signorina, Sie dürfen sich mit dieser Sache nicht überfordern und müssen mehr auf sich selbst und auf das Baby achten.“

Und wer kümmert sich dann um meine Großtante?

Die Pflege zu Hause wurde für uns immer schwieriger und belastender, von sämtlichen Anlaufstellen wurde unser Flehen weiterhin ignoriert, während sich der Zustand der Tante von Tag zu Tag verschlechterte. Einzige Lösung: eine private Pflege. Ohne zu wissen, wer sie bezahlen soll (Kostenpunkt: 1.800 Euro plus diverse Spesen pro Monat). Das Geld der Tante ist verbraucht. Wir Angehörigen haben in der Zwischenzeit ihre Rechnungen bezahlt. Wie es weiter geht? Keine Ahnung.

Die Organisation der Vollzeitpflege funktionierte zum Glück schnell und problemlos, die Beratung war sehr gut. Wir bekamen innerhalb von drei Tagen eine „Badante“. Doch damit waren die Probleme nicht gelöst, es kamen noch andere dazu. Tante Paula musste zurück in ihre Minisozialwohnung, mit der ausländischen Pflegekraft, die auf einem Notbett im Wohnzimmer schlafen muss. Aber es geht nicht anders. Wenigstens ist sie von einer Fachkraft betreut.

Nach ein paar Tagen akzeptiert Paula die Badante nicht mehr, schreit und schimpft. Schläft nicht. Glaubt, sie wird bestohlen, vergiftet und entführt. Will ihre Medikamente nicht nehmen. Und sie wird auch körperlich aggressiv. Alles Zureden hilft nichts. Sie trägt ständig ein Küchenmesser bei sich. Sie geht sogar auf die Pflegekraft und auf mich los. Sie ist nicht mehr sie selbst.

Eine Abends, als ich und mein Vater zu Besuch waren, eskaliert die Lage völlig. Nach Anruf bei der Notfallnummer der Notfallpsychologie – der psychiatrische Bereitschaftsdienst war telefonisch nicht erreichbar – und nach Absprache mit der Hausärztin blieb uns nichts anderes übrig, als die Notrufnummer 112 zu verständigen und unsere Tante wieder ins Krankenhaus zu bringen.

Nach stundenlangem Warten, aber das ist nichts Neues, wurde Paula erneut einer psychiatrischen Visite unterzogen: Wir hofften, sie würde stationär aufgenommen werden – wie auch von der Hausärztin dringend empfohlen. Dem war nicht so. Nach der zehnminütigen Kurzvisite wollte uns die Ärztin mit einem erneuten Tablettenwechsel vertrösten (auch wenn bereits mehrmals klargestellt wurde, dass die Patientin jegliche Medikamenteneinnahme verweigert) und sie nach Hause schicken.

Meinem Vater, der sie ins Krankenhaus begleitet hatte, platzte daraufhin der Kragen. Mit den Worten „Ihr müsst ihr helfen, zu Hause ist das nicht mehr tragbar“, ging er weg. Es dauerte nicht lange, da bekam er einen Anruf von den Carabinieri. Er sei verpflichtet, die Tante abzuholen und nach Hause zu bringen, ansonsten würde Anzeige gegen ihn erstattet.

Was blieb uns also anderes übrig, als Paula wieder mitzunehmen? Die Tante wurde ruhig gestellt, abgeholt und wieder in ihre Wohnung gebracht.

Am nächsten Tag fing alles wieder von vorne an.

Wahrscheinlich zahlt es sich nicht mehr aus, einen alten Menschen im Krankenhaus zu behandeln oder in den Pflegeheimen aufzunehmen. Was sollen wir jetzt machen? Sie sich selber überlassen? Unsere Tante in die Etsch werfen? Oder auf der Autobahn aussetzen?

Ein Sanitätssystem sollte doch dazu da und in der Lage sein, kranke Menschen aufzufangen und zu versorgen. Wie weit muss es kommen, um Hilfe zu bekommen? Bis wirklich etwas Schlimmes passiert?

Und dann?

Der Name der Autorin
ist der Redaktion bekannt.

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