Kunst – Elisa Alberti: (gm) Die Eröffnung der Ausstellung in der Galerie Prisma in Bozen fand ohne die Künstlerin statt. Elisa ...
Leben
„Kimp dor Krumer!“
Aus ff 15 vom Donnerstag, den 09. April 2020
Früher zogen zahlreiche Krumer durchs Land und kamen direkt zu den Leuten. Heute ist Diego Jobstraibizer einer der Letzten seiner Art.
Sein Lachen kommt vor ihm durch die Tür, es ist laut und in ihm schwingt der gleiche Singsang mit wie beim Reden. Jedes Wort klingt, als habe er beschlossen, dass es sich so anhört: etwas schief und abrupt.
Die Leute im Raum drehen sich zu Diego Jobstraibizer, 43, aus Fierozzo, um, und als er sich setzt, hüpft die Katze gleich auf seinen Schoß. Er lässt sie gewähren, auch wenn sie ihre Krallen nicht eingezogen hat.
Es ist ein novemberkalter Nachmittag und seit fünf Uhr morgens steht er auf den Beinen, er wird erst gegen Abend nach Hause kommen.
Kaum einer kennt Südtirols Straßen so gut wie er, allein an diesem Donnerstag war er im hintersten Passeiertal, im Ahrntal und im Eisacktal unterwegs. Siebzig- bis achtzigtausend Kilometer macht er im Jahr, in den vergangenen fünf Monaten waren es vierzigtausend. „Mein Tata war früher noch zu Fuß unterwegs“, winkt er ab.
Lange Autofahrten sind normal für Krumer, die vorwiegend aus dem Fersental im Trentino stammen und früher zu Fuß von Hof zu Hof zogen. Sie versorgten auch entlegene Bauernhöfe in Südtirol mit Waren, vor allem den Winter überstanden die Bergbauern oft nur mit Hilfe der Krumer. Das Phänomen der Wanderhändler ist fest in der alpenländischen Kultur verankert.
In einer Publikation des „Bersntoler Kulturinstituts“ über die Krumer heißt es, dass selbst vor der Industrialisierung im 18. und 19. Jahrhundert die Bergbauern in den Alpen nie komplett autonom und unabhängig lebten. Denn in jedem Tal waren die Bewohner auf ein bestimmtes Handwerk spezialisiert. Es gab Kesselflicker, Messerschleifer oder Metzger. Diego hat noch vor Augen, wie seine Mutter und die anderen Frauen im Tal in Handarbeit Kleider anfertigten, welche dann von den Krumern mit anderem Nähzubehör in ganz Südtirol verkauft wurden.
Mittlerweile sind die meisten Höfe in Südtirol längst mit Straßen an die Täler angebunden und nicht mehr auf die Krumer angewiesen. Diego hat trotzdem genug zu tun. Er beliefert Kunden mit Matratzen und Bettzubehör, das er von einer größeren Firma ankauft und überwiegend an Pensionen und Hotels, aber auch an Privatpersonen, weiterverkauft. In seinem mit Matratzen vollgestopften Lieferwagen lässt sich die passende Matratze für jeden Rücken finden.
„Die Kunden telefonieren am Abend, ich komme in der Früh mit der Ware.“ Jobstraibizer ist schneller als die meisten Onlinehändler, die alten Matratzen nimmt er mit und entsorgt sie auf einem Recyclinghof. Immun ist er gegen die übermächtige Konkurrenz im Netz dennoch nicht.
„Die Älteren kennen die Krumer noch, die Jüngeren immer weniger.“
Als er begann, als Krumer zu arbeiten, gab es neben ihm noch zwei Dutzend andere, die durch das Land zogen, jetzt schätzt er ihre Zahl auf höchstens zehn. „Es genügt nicht“, sagt er, „eine Handvoll Höfe zu bedienen wie mein Vater, ich muss das Doppelte leisten.“ Sein Vater brach am Sonntag auf und kam erst am Wochenende wieder heim, er durchstreifte ganz Südtirol – die Ware in der Kraxe auf dem Rücken, er schlief bei Kunden, trank den Wein, den sie ihm anboten.
Die meisten Fersentaler Krumer waren „Pock“-Krumer, und transportierten ihre Waren in einem „Pock“, einem einfachen Sack aus Stoff. Die „Tatl“-Krumer schleppten die Ware in einem rechteckigen Kasten mit Schubladen (Tatln) mit sich. Später schaffte sich Diegos Vater einen Lieferwagen an. Seit Diego nach zehn Jahren Schufterei bei einer Baufirma in die Fußstapfen, oder besser gesagt: Reifenspuren, seines Vaters getreten ist, schläft er, wenn auch selten, in seinem eigenen Bett und trinkt Wasser statt Wein.
Es ist kurz vor Weihnachten und Diegos Geschäft, das er im Mai 2019 eröffnet hat, blinkt und glitzert mit dem Weihnachtsmarkt vor der Tür um die Wette. Der „ Habsburgische Weihnachtsmarkt“ in Levico Terme schlängelt sich quer durch die von der Habsburgermonarchie geprägte Altstadt. „La bottega dei sogni“, das Geschäft der Träume, prangt in blauen Großbuchstaben über dem Eingang, es bietet fast alles für Haus und Freizeit. Das Versprechen: adieu, schlechter Schlaf und Alpträume! Von Montag bis Freitag führt Diegos Frau Denise den Laden, am Wochenende steht sie zusammen mit ihm im Geschäft. Die Kinder Matthias und Christian sind derweil bei der Nonna. Erst zu Weihnachten nimmt sich auch Diego ein paar Tage frei.
Hier findet man Tischdecken, Polsterbezüge oder Bettlaken. Und die Matratzen zum Probeliegen. Wenn die Kunden sich für hart, mittel oder weich entschieden haben, liefert Diego die Matratze ein paar Tage später, auf Maß gefertigt, nach Hause. Doch auch dann darf man noch probeschlafen, bevor man sich endgültig für eine Matratze entscheidet.
Der Kauf einer Matratze bei Diego kann dauern, er beruht nicht nur auf der halbherzigen Lektüre eines Artikels der Stiftung Warentest. Diegos Kunden schätzen denn auch vor allem den persönlichen Kontakt zum Lieferanten.
„Ich bin froh, wenn die Leute mich anrufen, ob sie nun zufrieden sind oder nicht“, sagt er. Eine Standard-Kaltschaum-Matratze kostet bei ihm rund 385 Euro.
Eine Studie des Wifo (Wirtschaftsforschungsinstitut der Handelskammer) zeigt auf, dass in den Jahren 2006 bis 2014 die Zahl der Menschen in Südtirol, die Waren oder Dienstleistungen im Internet gekauft haben, jährlich um 8000 gestiegen ist. Die größte Gruppe bilden dabei Personen zwischen 16 und 34 Jahren.
Wochenmärkte und Einzelhandel sind beliebt in Südtirol, und trotzdem shoppen die Menschen immer mehr online. Diego muss mehr bieten, wenn er mithalten will.
Diego begrüßt uns in der „Bottega dei sogni“ mit festem Händedruck und herzhaftem Lachen. Habt ihr Rückenprobleme oder Schlafstörungen, fragt er? Er führt uns in den hinteren Bereich, wo sich Matratzen und Bettgestelle aneinanderreihen. An der Wand, neben dem Spruch „Siamo fatti della stessa sostanza di cui sono fatti i sogni (Wir sind aus demselben Stoff wie die Träume) veranschaulicht ein Diagramm die unterschiedlichen Härtegrade einer Matratze.
Um sich für die richtige zu entscheiden, muss man sie mit Händen, Rücken, mit dem ganzen Körper fühlen – schließlich verschläft der Mensch im Schnitt 24 Jahre seines Lebens. Diego verkauft jetzt viele Aloe-Vera-Matratzen. Diego füttert uns mit Matratzengedanken, dazu gibt es Kaffee. Die Atmosphäre ist familiär, anders als bei einem unbekannten Angestellten in Gelb-Blau. Die meisten seiner Kunden sind Stammkunden.
Vier Tage später, um halb sechs am Abend, klingelt Diego an der Haustür. Er hatte in einem Gastbetrieb im Vinschgau zu tun, er entschuldigt sich für die Verspätung, schnell hat er die durchgelegenen, 20 Jahre alten, Matratzen durch neue ausgetauscht. Er wuchtet die 30 Kilo schweren Matratzen allein durch das Stiegenhaus und in seinen weißen Lieferwagen und kramt noch schnell die passenden Matratzenschoner hervor.
„Wenn man in den ersten drei Nächten Rückenschmerzen bekommt, ist das normal, man muss sich an die neue Matratze gewöhnen“, versichert er und bietet sogar an, das Bett neu zu beziehen. Zu trinken will er nur ein Glas Wasser.
„Im Jänner komme ich wieder“, verspricht er, „wenn sicher ist, dass die Matratzen passen, sonst bringe ich neue.“ Tatsächlich ist eine Matratze zu weich. Diego kommt kurz nach Weihnachten mit einer anderen: „Ich will, dass die Kunden ruhig schlafen“ sagt er. Und streicht lächelnd über die neue Matratze.
Diego glaubt nicht, dass die Krumer aussterben werden, trotz der übermächtigen Konkurrenz, zu sehr seien sie Teil der Kultur und Tradition der Alpen. Sein großer Sohn bettelt ihn manchmal schon an, mitkommen zu dürfen, wenn er wieder einmal aufbricht. Er darf laut Gesetz niemanden in seinem Firmenauto mitfahren lassen. Doch wenn er von vom Wunsch seines Buben erzählt, vibriert seine Stimme vor Stolz und Freude über einen möglichen Nachfolger.
„Ich weiß nicht“, sagt er, „wie die Zukunft für Krumer aussehen wird, ich weiß nicht, wie die Welt in 20 Jahren sein wird. Aber ich mache mit all meiner Energie weiter, was ich kann, solange es geht.“
Emilie Sophie Vorhauser
weitere Bilder
Der Gabriel-Grüner-Schülerpreis wurde in diesem Jahr das sechste Mal vergeben. Der Preis (ein Projekt von ff, Agentur Zeitenspiegel, deutscher Bildungsdirektion, Bildungsausschuss Gemeinde Mals) richtet sich an Schülerinnen und Schüler der Oberschule (4. Klasse) aus ganz Südtirol. In vier Workshops lernen sie, wie man eine Reportage in Wort und Bild verfasst. Der Preis ist benannt nach dem Südtiroler Stern-Reporter Gabriel Grüner, der 1999 kurz vor Ende des Jugoslawien-Krieges im Kosovo von einem russischen Söldner ermordet wurde.
In dieser Ausgabe bringen wir die Reportage von Emilie Vorhauser (18) aus Meran und Celina Raffl (17) aus Burgstall. Sie besuchen das
Sprachengymnasium in Meran. Sie haben die Geschichte von Diego Jobstraibizer aufgeschrieben, der in der Tradition seiner Vorfahren als Wanderhändler arbeitet. Vorhausers Urgroßvater war selber Krumer, sie würde gerne Journalistin werden oder im Museumsbereich arbeiten; Celina Raffl überlegt, nach der Matura im nächsten Jahr Psychologie zu studieren.
Weitere Artikel
-
Ausgegrenzt und angezählt
Abgeschottete Seniorenheime, isolierte Bewohner, steigende Infektionszahlen, Tote: Das Coronavirus trifft unsere Ältesten am härtesten.
-
Auf dürren Zweigen
Der auferlegten Einsiedelei kann ich einiges abgewinnen. Vor allem dann, wenn mein Blick so zielgerichtet wird wie Zorros Degenspitze.
Leserkommentare
Kommentieren
Sie müssen sich anmelden um zu kommentieren.