Leben

Doktor Covid

Aus ff 16 vom Donnerstag, den 16. April 2020

Marc Kaufmann
In der Luft: Marc Kaufmann fliegt gerne im Hubschrauber. Nicht weil es gefährlich ist, weil es extreme Teamarbeit ist. © Alexander Alber
 

Marc Kaufmann, medizinischer Einsatzleiter in der Coronakrise, ist der Arzt, dem die Südtiroler vertrauen müssen. Aber was ist das eigentlich für ein Mensch, dieser Dr. Kaufmann?

In den vergangenen Wochen hat Marc Kaufmann ein Bäuchlein bekommen. Zumindest behauptet er das. Man will es ihm kaum glauben, immerhin arbeitet Kaufmann seit zwei Monaten so gut wie ohne Pause.

Der Notarzt ist viel Arbeit gewohnt, aber seine Tage sind gerade besonders lang und die Entscheidungen, die er treffen muss, haben gerade besonders großen Einfluss darauf, ob wir Covid-19 medizinisch heil überstehen. Es sieht gut aus; ein Kollaps der Südtiroler Krankenhäuser war aber wahrscheinlicher als viele annehmen. „Ich habe oft daran gezweifelt, dass wir es schaffen“, sagt Kaufmann während des Gesprächs mit ff. Er sagt es nicht nur einmal.

Doktor Marc Kaufmann ist Direktor des Dienstes für Rettungs- und Notfallmedizin im Lande. Seit Beginn des Corona-Notstandes ist der Primar auch Südtirols medizinischer Einsatzleiter Covid-19: Marc Kaufmann ist Südtirols Dr. Covid.

Obwohl es in Südtirol gerade wenige Jobs gibt, die kräftezehrender sind, und obwohl er in den vergangenen Wochen ein paar Mal „auf dem Zahnfleisch heimgekrochen“ ist, hat Marc Kaufmann zugenommen. Weil er nicht auf den Berg kann. Kaufmann, für den, wie für die meisten Mediziner, die Medizin fast alles ist, hat eine zweite große Leidenschaft: den Bergsport. Berglaufen, Bergsteigen, Skitouren, das taugt ihm und das braucht er zum Ausgleich. Berg geht aber gerade nicht.

Wir skypen kurz nach dem Mittagessen. Es gab Pasta und Fisch, gekocht von den zwei Sizilianern, die zur Brandwache auf der Pelikan-3-Basis in Laas gehören, an der Kaufmann am Tag unseres Gesprächs Dienst hat. Es ist ein ruhiger Dienst; gab es für den neuen Rettungshubschrauber in seinem ersten Einsatzmonat Februar noch rund 100 Einsätze, so bleibt er jetzt wie die anderen Hubschrauber die meiste Zeit über am Boden.

Während des Gesprächs schaut Kaufmann selten in die Kamera seines MacBooks, er schaut nach links oder rechts, stützt seinen Kopf immer wieder auf den rechten Arm auf. Er bleibt fokussiert und abgeklärt, wirkt aber auch hibbelig. Als er vor vier Wochen auf der täglichen Pressekonferenz von Landeshauptmann Arno Kompatscher sprach, ging Kaufmanns linkes Bein die ganze Zeit auf und ab. Er schaut etwas müde aus. Nicht geschafft, müde.

Zwei Monate vorher, Mitte Februar, war dem Primar klar: Die Covid-19-Welle rast auf Südtirol zu. Und ihm war auch klar, was das für ihn als Leiter der Notfallmedizin bedeuten würde. „Wenn ich im Zug sitze, dann möchte ich vorne sitzen“, sagt Kaufmann. Für ihn ein typischer Satz.

Kaufmann ist kein „Dabei sein ist alles“-Typ, Kaufmann wurde Anästhesist, weil es Anästhesisten sind, die im Notfall gebraucht werden. Ihn faszinieren extreme Situationen, wenn es schnell gehen muss. Schnell und richtig. Jemand, der ihn schon länger kennt, nennt ihn einen „graden Michl“, der zwar ruhig ist, aber auch „palle“ hat. Die braucht er in seinem Job auch.

Sieben Krankenhäuser, aber eine zentrale Einsatzleitung – sein Plan, wie dem Coronavirus organisatorisch zu begegnen sei, überzeugte die Direktion des Sanitätsbetriebes. Kaufmanns Team wurde über alle Krankenhäuser gestellt, auch in Bozen übernahm er das Kommando, er selbst spricht von einer temporären „Machtübernahme“. „Je kritischer eine Situation wird, umso klarer müssen die Kommandostrukturen sein.“ Wer die Seilschaften, Hierarchien und Eitelkeiten am Landeskrankenhaus kennt, weiß, wer in Bozen alte Strukturen aufbrechen möchte, braucht richtig gute Nerven.

Macht, Kommando, Durchgriffsrecht, Kaufmann wählt Begriffe, die mehr als Wörter sind, es sind Ansagen. Wie so viele Ärzte verfügt auch er über ein solides Selbstbewusstsein.

Covid-19 ist für Marc Kaufmann nicht nur eine medizinische, sondern vor allem auch eine organisatorische Herausforderung. Viele Patienten mussten verlegt, neue Intensivstationen aufgebaut, Mundschutz und Schutzausrüstung ratio-
niert werden. Alle arbeiteten tapfer mit, sagt Kaufmann, dennoch spitzte sich die Situation täglich zu, unter dem Personal gab es Ängste, Emotionen kamen hoch, Kaufmanns Job wurde zur täglichen Gratwanderung, aber Gratwanderungen sind sein Ding. Dass es für ihn die Medizin wird, wurde früh klar. Seine Noten, er besuchte das Bozner Franziskanergymnasium, waren gerade in den naturkundlichen Fächern recht gut. Ein ehemaliger Mitschüler erzählt, Kaufmann war fleißig, aber kein Streber. Aber er war auch jemand, der seine Mitschüler neckte.

In der Freizeit kletterte Kaufmann gerne, er war bei der Bergrettung von Welschnofen aktiv, dann auch beim Weißen Kreuz Bozen. Er wollte aber nicht nur mitmachen, er wollte es selbst machen. Kaufmann will immer ganz vorne stehen.

Auch im Schwimmbad; er arbeitete einige Sommer als Bademeister im Schwimmbad von Welschnofen. Oder auf der Bühne; Kaufmann spielte in einer kleinen Rockband E-Gitarre, die Jungs nannten sich, ganz Fränzi-Style, Adeodatus („von Gott geschenkt“). „Große Erfolge trotz schwacher Performance“, Kaufmanns Einschätzung fällt nüchtern aus, seine Frisur, er trägt halblang, ist eine Reminiszenz an diese Kletter-, Bagnino-, Rockerzeit.

Kaufmann wurde dann aber doch kein Rockstar oder Bademeister, er studierte Medizin in Innsbruck. Er blieb zwanzig Jahre lang an der Uniklinik, vor allem in der Transplantations- und Herzanästhesie. Viele OPs finden in der Nacht statt, sie dauern zwischen sechs und acht Stunden. Auch bei Komplikationen, Kaufmann spricht von „Blutschlachten“, wird er oft gerufen, er hat die Fähigkeit, innerhalb weniger Minuten wieder für Ordnung zu sorgen. Es gibt Leute, die werden in Stresssituationen laut, andere ganz ruhig. Kaufmann gehört zur zweiten Sorte.

Nach zwanzig Jahren wollte er aber etwas Neues. In Bozen waren gerade die Primariate der Anästhesie und der Notfallmedizin vakant. Er bewarb sich und wurde im November 2018 Primar der Notfallmedizin. Es war ein holpriger Start, die Stelle war auch dem geschäftsführenden Primar, Ernst Fop, in Aussicht gestellt worden. Fop ging gerichtlich gegen Kaufmanns Ernennung vor.

Aber auch Kaufmann hatte Zweifel an seinem Umzug nach Südtirol.

Ein Jahr lang. So lange wollten sich seine Frau und er mit der Entscheidung Zeit lassen. Sie, Psychiaterin an einer Privatklinik, und die Kinder, zwei Mädchen, leben noch draußen in Innsbruck; Kaufmann pendelt zwischen Innsbruck, Bozen und Welschnofen. Das Jahr ist um, die Entscheidung, wo die Familie künftig leben will, noch immer nicht gefallen. Es war zu viel los.

Covid-19 hat der Familie die Entscheidung fürs Erste abgenommen, derzeit leben alle bei Kaufmanns Eltern in Welschnofen. Abgetrennt natürlich, jeder bewohnt ein Stockwerk für sich. Obwohl räumlich vereint, sieht er seine Kinder weniger als sonst. Zumindest schläft er gut, „weil ich müde bin“. Vor drei Wochen konnte er aber nicht mehr schlafen.

Kaufmann erinnert sich: „Ich musste einen Kollegen auf der Intensivstation beruhigen. Danach bin ich an den OP-Sälen vorbeigegangen und wurde von Anästhesisten aufgehalten. Die haben mich mit entsetzten Augen angesehen, gleichzeitig wurde an mir ein frisch intubierter Patient vorbeigeschoben. Fast alle Intensivbetten waren besetzt, aber wir hatten einen Zulauf von vier bis sechs Intensivpatienten in 24 Stunden.“ Auf der Heimfahrt hat Kaufmann noch mit Sanitäts-Generaldirektor Florian Zerzer telefoniert, um dann zuhause ins Bett zu fallen. Sein Gedanke dabei: „Das schaffen wir nicht. Am nächsten Tag haben wir eine Notfallsitzung einberufen.“

Wäre der Kollaps eingetreten, hätten die Krankenhäuser ihre Patienten nicht mehr versorgen können, Kaufmann spricht von einem „kriegsähnlichen Versorgungszustand“. Der Zustand ist nicht eingetreten, „wir haben es geschafft, darauf können wir stolz sein.“ Nach außen gibt sich Kaufmann abgeklärt. Er spricht nüchtern, verwendet Wortungetüme wie „Zeitkontingent“ oder „Kollateraleffekte“. Wahrscheinlich zum Selbstschutz. Kalt wirkt er nicht.

Im Laufe des Gesprächs sagt er auch: „Mir blutet das Herz.“ Grund dafür ist Kaufmanns Blick von Welschnofen auf den Rosengarten.

Dabei geht es Kaufmann nicht um den Gipfel. Es geht ihm um die körperliche Grenze, ob er ein bisschen schneller ist als die anderen oder sich etwas leichter tut. Viele Mediziner haben dieses Wettbewerbsdenken, vielleicht muss man so ticken, wenn man an einer Seilwinde unter lärmenden Rotorblättern auf einen Felsvorsprung im Gebirge herabgelassen wird, um ein Kind zu bergen, dass
200 Meter abgestürzt und wahrscheinlich tot ist.

An einzelne Einsätze, OPs oder an die Namen seiner Patienten erinnert sich Marc Kaufmann nur selten. Weil es viele Einsätze waren und weil er sich so schützt. Aber an den kleinen Jungen, der 200 Meter abgestürzt war und ohne bleibende Schäden überlebte, erinnert er sich.

Kaufmanns Smartphone läutet und holt ihn in die Corona-Gegenwart zurück, Generaldirektor Zerzer ruft an. Eine Stunde später wird Zerzer bei der täglichen Pressekonferenz Stellung zu den aus China importierten Masken nehmen müssen. Für Kaufmann sind nicht die Masken der Skandal, sondern wie damit umgegangen wird, wie politische Kräfte einwirken. „Die Masken passen“, sagt Kaufmann. Was nicht passt, dass ein „Halblustiger“ Zerzers Rücktritt fordert. O-Ton Kaufmann: „Wenn der zurücktritt, dann schaffen wir es nicht.“ Der Primar ärgert sich. Dieser „Wahnsinn“ würde ihn von seiner eigentlichen Arbeit abhalten, am Tag vor dem Gespräch mit ff wurde Kaufmann von den Carabinieri zur Angelegenheit befragt. Die Sache belastet ihn.

Das Virus wird uns verändern, davon ist auch Kaufmann überzeugt. In der neuen Covid-19-Station am Bozner Krankenhaus kann man durch ein Fenster vom sauberen Trakt in den schmutzigen Trakt schauen. Mit „sauber“ meinen Mediziner infektionsfrei, mit „schmutzig“ kontaminiert. Zwei völlig andere Welten auf wenigen Metern Abstand.

So lange es keinen Impfstoff gibt, bleibt uns die Krankheit erhalten. Bis dahin ist die Zeit der Skitouren längst vorbei, oder sie beginnt wieder. So genau weiß das niemand. Was Kaufmann mit Sicherheit weiß: Wenn es vorbei ist, dann will er wieder mehr für die Kinder da sein. Und er will wieder rauf auf den Berg. Ohne Maske, ohne Stress. Zunächst aber mit Bäuchlein.

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  • Am Boden: Kaufmann wirkt immer ruhig und abgeklärt. Manchmal brodelt’s innerlich. Überblick behalten: Neue Covid-19-Stationen mussten eingerichtet werden.

Marc Kaufmann, Jahrgang 1973, war in seiner Jugend ­Kletterer, Bergretter, Bademeister und verhinderter Rockstar. Nach der Matura studierte er in Innsbruck Medizin. Er arbeitete zuerst als Notarzt in Sterzing, dann als Anästhesist und Intensivmediziner in Innsbruck. Seit November 2018 ist er Primar der Notfallmedizin in Südtirol, aktuell medizinischer Einsatzleiter des Notfallmanagements Covid-19

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