Leben

Der Feind im Kopf

Aus ff 14 vom Donnerstag, den 08. April 2021

Sara Prieth
Sara Prieth, 17, hat schon vieles erlebt, sie ist mit einem gutartigen Tumor im Kopf geboren: „Sie ist wirklich eine coole Socke“, sagt ihr Kunstlehrer über sie. © Julia Vieider und Nadin Stuflesser
 

Sara leidet seit ihrer Geburt an einem Gehirntumor. Bestrahlungen, Chemotherapien und Operationen bestimmen ihr Leben. Warum sie trotzdem nie ihr Lächeln verloren hat.

Ein Reißverschluss war leichter für die Ärzte, um mein Kopf aufzutian“, sagt Sara. Die Narben auf ihrem Kopf erzählen die Geschichte eines Mädchens, das mit 17 Jahren schon mehr als 60 Vollnarkosen hinter sich hat.

Sara Prieth erblickte am 21. Februar 2003 das Licht der Welt, augenscheinlich gesund und aufgeweckt. Nach sechs Monaten nahm der normalgewichtige Säugling plötzlich rapide ab. Sie zeigte kein Hungergefühl, wollte nicht essen. Nach etlichen Untersuchungen entdeckten die Ärzte bei der Magnetresonanz unter Vollnarkose in Saras Kopf einen 8x8 cm großen Tumor.

Das Pilozytische Astrozytom im Hypothalamus Grad 2 ist der häufigste Gehirntumor bei Kindern und Jugendlichen. Er wächst schon während der Schwangerschaft im Kopf des Fötus, wird oft erst nach einigen Monaten erkannt und ist gutartig. Da er aber bei Sara bereits eine gefährliche Größe angenommen hatte, gab es Handlungsbedarf. Ein Spezialist, der sich gerade in Turin aufhielt, erklärte sich bereit, das kleine Mädchen am Kopf zu operieren. Die Überlebenschancen seien jedoch gering, gab er den jungen Eltern zu verstehen.

Das ist jetzt 17 Jahre her, erzählt Julia Prieth, Saras Mutter, und schaut liebevoll ihre Tochter an. Sara ist in ihr Memory vertieft, das sie von ihren Großeltern bekommen hat. Dort sind Fotos von ihr abgedruckt. Als sie ein Paar gefunden hat, zeigt sie es uns voller Stolz. Es ist das erste Foto von ihr nach der Geburt: Ein putzmunteres Baby.

Sara erzählt haufenweise Geschichten: An viele Erlebnisse aus der Vergangenheit kann sie sich noch sehr gut erinnern, während sie Gegenwärtiges schnell vergisst. Auch ansonsten fallen ihr viele Dinge im Alltag schwer. Beispielsweise das Unterscheiden von Tag und Nacht. Dagegen bekommt sie Medikamente, um Zwischenfälle zu vermeiden. Einmal ist sie mitten in der Nacht aufgewacht in der Überzeugung, es sei Tag. Ihre Eltern fanden sie draußen im Stiegenhaus. Das amüsiert Sara heute noch.

Mit einem Lachen erzählt sie, was sie alles angestellt hat. Es grenzt an ein Wunder, dass sie das noch kann. Denn die vielen Vollnarkosen, Operationen, Therapien und Folgen des Tumors haben nicht nur äußerliche Narben hinterlassen. Geistig ist Sara auf dem Stand einer Grundschülerin. Weil der Tumor sich im Hypothalamus befindet und stets gewachsen ist, behinderte er ihre Entwicklung im Kleinkindalter. Auf einem Foto sieht man, wie viel Sara als Kleinkind an Gewicht verloren hat – das Bild gibt uns eine Ahnung davon, welche Auswirkungen die Krankheit auf Saras Leben und Entwicklung hatte und hat.

Schon im Alter von einem Jahr begannen die Ärzte mit einer Chemotherapie, auch wenn sie nicht genau wussten, ob die Therapie anschlägt. Ein halbes Jahr später entwickelte Sara eine Allergie gegen das Medikament. Die Ärzte in Bozen waren überfragt, sie wurde an die Uniklinik in Innsbruck überstellt. Dort bekam sie zwei Schläuche eingesetzt, die dafür sorgen, dass die Gehirnflüssigkeit richtig in den Bauch abläuft. Das Schild, das sie immer bekam, wenn sie nüchtern bleiben musste, hat sie aufbewahrt.

Und dann wieder ein Schock: Die Chemo musste abgebrochen werden, da sie nicht anschlug und der Tumor schon fast wieder seine Anfangsgröße erreicht hatte. Auf weitere Operationen folgte die erste Bestrahlung: der letzte Ausweg.

Normalerweise werden Kinder unter sechs Jahren nicht bestrahlt, da das Gehirn sich noch im Wachstum befindet. Dennoch wurde Sara fünf Wochen lang täglich unter Vollnarkose bestrahlt. Dies zeigte Wirkung: Sie nahm wieder zu und lernte im Alter von drei Jahren das Gehen. Es folgten kleinere und größere Operationen, auch an beiden Beinen. Vor allem ihr linkes Bein und die gesamte linke Körperhälfte sind schwach. Deshalb braucht Sara ein Pflegebett mit einem Klappgitter. Es soll verhindern, dass sie nachts, wenn sie sich umdreht, aus dem Bett fällt. Im Bad sind viele Stützhilfen zu sehen, es ist mit einer großen Dusche mit Sitzgelegenheit ausgestattet.

Im Jahr 2007 kam ihre kleine Schwester Hanna auf die Welt. Sara war vier Jahre alt, bei der Taufe platzte in der Kirche aus ihr der Satz „Boah, do bin i no nia gewesen!“ heraus. Bei der Erstkommunion spuckte sie dem Priester die Hostie wieder zurück in die Hand, weil sie ihr nicht schmeckte. Heute hält sie es unter vielen Menschen nicht mehr aus, sie kann die lauten Geräusche nicht wie gesunde Menschen ausblenden, sondern leidet darunter. Nur an das Quengeln ihres zwei Jahre alten Bruders Toni habe sie sich gewöhnt, sagt sie. Der Kleine ist sehr lebendig. Sara schaut ihm kopfschüttelnd zu, lacht und sagt: „Er hält mich ganz schön auf Trab.“ Toni schmeißt, als müsste er es beweisen, die Schüssel mit den Nüssen auf den Boden, Sara sammelt sie wieder ein. Die Kinder sind herzlich und sympathisch wie die Eltern Julia und Dieter. Sie strahlen Optimismus aus. Schon an der Haustür begrüßt uns ein Smiley.

2009 gibt es endlich Hoffnung für die Familie. Ein Spezialist für Schädel-Hirn-Traumen operiert Sara in Zürich und teilt den Eltern mit, dass sich nur noch wenige Tumorzellen in ihrem Kopf befänden. Doch noch weiß man nicht: Sterben diese ab oder wachsen sie weiter?

Sie wachsen weiter. Wieder wird die Hoffnung der Familie auf ein normales Leben für Sara zerstört. Die Zellen vermehren sich rasant, 2010 wird Sara noch einmal operiert. Zu den Sorgen um die Gesundheit von Sara kommen finanzielle Sorgen.

Da die Schweiz nicht Teil der EU ist, müssen die Eltern die fünfstellige Summe für die Operation in Zürich selber aufbringen – Operationen in EU-Mitgliedsländern werden von der Krankenkasse bezahlt, bringen jedoch viel Papierkram mit sich. Doch der Eingriff in Zürich ist nicht die letzte finanzielle Hürde. Da der Arzt sich als feinfühlig und kompetent erwiesen hatte, beschließt die Familie, ihn fünf Jahre danach nochmals aufzusuchen. Allerdings arbeitet er mittlerweile in Hannover in einer Privatklinik. Sie verlangt allein 50.000 Euro als Anzahlung für die OP. Der enorme Geldbetrag bringt die Eltern zum Verzweifeln. Normalerweise bekommt die Familie Unterstützung vom Land Südtirol und vor allem von der Südtiroler Kinderkrebshilfe Peter Pan – in diesem Fall ist es nicht möglich.

„Mir hom wirklich nimmer weitergewisst“, sagt Julia. Sie sucht Rat bei ihren Freundinnen, die eine Spendenaktion ins Leben rufen. Am Ende kommen die 50.000 Euro zusammen. Auch die Bewohner von Saras Heimatdorf Völs am Schlern (3.500 Einwohner) spenden fleißig. Auch aus anderen Orten kommt reichlich Unterstützung. Die Eltern, die keinen Einfluss auf das Spendenkonto haben, sind erleichtert und dankbar. Die Spendenaktion hat aber auch ihre Schattenseiten. Julia erzählt, sie habe sich nicht mehr getraut, einen Kaffee trinken zu gehen. Es hieß: Wenn sie in die Bar gehen kann, warum kann sie dann nicht auch die OP bezahlen?

Mit dem Geld kann Sara in Hannover operiert werden. Sie wäre ansonsten vermutlich erblindet. Der Tumor befand sich direkt hinter dem Sehnerv. Für das Gespräch im Vorfeld der OP mit dem Chirurgen waren Julia und Sara zehn Stunden im Zug unterwegs, das Ticket allein kostete 850 Euro. Fliegen ist unmöglich. Es besteht das Risiko, dass die Schläuche in Saras Kopf durch den Druck zerstört werden. Nach dem Gespräch fragt Sara ihre Mutter: „Sind wir nach Hannover gefahren, um einen Kaffee zu trinken?

Nach der Operation ging es Sara so gut wie nie zuvor. Das sieht man auch auf dem Foto, das sie uns in die Hand drückt. Ihre Mama lächelt: „Du bisch schun a Topfere.“ „Jo, sel bin i“. Sara lächelt auch. Mittlerweile muss sie nicht mehr so oft ins Krankenhaus. Allerdings muss sie viele Medikamente nehmen, vor allem Hormone. Sie sind wichtig, damit sie in die Pubertät kommt. Denn danach könnte der Tumor aufhören zu wachsen.

Das ist der einzige Lichtblick, den die Familie noch in Bezug auf die Krankheit hat. Momentan ist Saras Zustand stabil, und ihr geht es gut. Sie hat einen geregelten Tagesablauf, der auch Schule umfasst. Sie besucht die dritte Klasse der Fachschule für Hauswirtschaft und Ernährung in Neumarkt. Kochen, Malen und Basteln sind ihre Lieblingsbeschäftigungen. Und Geschichten erzählen. Uns hat sie sich anvertraut, als würde sie uns schon jahrelang kennen.

„Ich möchte nicht auf meine Krankheit reduziert und anders behandelt werden“, sagt Sara. Sie ist zufrieden und dankbar für ihr Leben und blickt optimistisch in die Zukunft – doch ihre Vergangenheit wird immer ein Teil von ihr sein. Weder an ihr noch an ihren Eltern ist die Geschichte spurlos vorbeigegangen. Als Saras Diagnose kam, waren beide noch sehr jung, sie fürchteten, der Situation nicht standhalten zu können. „Mir worn stuckenweis oanfoch fertig. Olm va Spitol zu Spitol und olm de Vollnarkosen.“ Die Familie hat die Krisen mit viel Kraft und Liebe überstanden.

Sara wird es mit ihrem Kampfgeist noch weit bringen. Sara, sagt ihr Kunstlehrer, „ist eine wirklich coole Socke!“

Text und Fotos: Julia Vieider und Nadin Stuflesser

weitere Bilder

  • Sara Prieth Sara mit ihren Eltern Nadin ­Stuflesser und Völser Aicha

Der Gabriel-Grüner-Schülerpreis (ein ­Projekt von ff, Agentur Zeitenspiegel, der ­Bildungsdirektion des ­Landes Südtirol und des Bildungsausschuss der Gemeinde Mals) richtet sich an Schülerinnen und ­Schüler der Oberschule (4. Klasse) aus ganz Südtirol. In vier Workshops lernen sie, wie man eine Reportage in Wort und Bild verfasst. Der Preis ist benannt nach dem Südtiroler Stern-­Reporter ­Gabriel Grüner, der 1999 kurz vor Ende des ­Jugoslawien-Krieges im ­Kosovo von einem russischen Söldner ermordet ­wurde.

In dieser Ausgabe bringen wir die Reportage von Julia ­Vieider aus Völser Aicha (unten rechts) und Nadin ­Stuflesser aus Branzoll (unten links), 17 Jahre alt. Sie besuchen das sozialwissenschaftliche Gymnasium in Bozen. „Ich habe sehr viel aus den Workshops mitgenommen“, sagt Julia Vieider, „es war eine großartige Erfahrung.“ Sie möchte nach der Matura Lehramt Germanistik und Geschichte studieren, Nadine Stuflesser Sprachen. ff druckt in den kommenden Ausgaben die Reportagen, die bei den Workshops entstanden sind.

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