Leitartikel

Der verkaufte Sonntag

Aus ff 18 vom Donnerstag, den 04. Mai 2017

Leitartikel
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Was bedeutet es für eine Gesellschaft, wenn es nicht einmal an Sonn- und Feiertagen eine Entschleunigung gibt? Die liberalisierten Öffnungszeiten im Handel haben beträchtliche wirtschaftliche und gesellschaftliche Sprengkraft.

Wenn die Gewerkschaften sich über die Flexibilisierung der Wirtschaft, über befristete Verträge, prekäre Arbeitsplätze oder offene Läden am Sonntag beklagen wollen, können sie sich ohne Weiteres auch bei ihren (ehemaligen) „Genossen“ beklagen.
Überall dort, wo Rechte der Arbeitnehmer aufgeweicht wurden, waren Sozialdemokraten an der Regierung: Schröder in Deutschland, Blair in Großbritannien oder Renzi in Italien. Nirgends in Europa gibt es zum Beispiel so viele Formen von prekären Arbeitsverträgen wie in Italien – geholfen hat es der Wirtschaft wenig. Wird Matteo Renzi, er könnte ja jetzt wieder Ministerpräsident werden, dann seine neoliberalen Anwandlungen „verschrotten“? Sonst wird womöglich die Lega die neue Arbeiterpartei wie in Frankreich der „Front National“ oder die FPÖ in Österreich.
Zu Ostern und am 1. Mai konnte man beobachten, was es heißt, wenn in der Wirtschaft Beschränkungen fallen. Viele Geschäfte waren offen: Wer will, darf. Es war die Regierung Monti, die 2011 die Liberalisierung der Ladenöffnungszeiten beschloss – in Übererfüllung einer Forderung der Europäischen Union. „Salva Italia“ hieß das Dekret.
Rettung für wen?
Es begünstigt die großen Textilketten, Lebensmittelmärkte und Einkaufscenter und zwingt die Handelsangestellten dazu, sonn- und feiertags zu arbeiten. Familienleben haben sie seitdem keines mehr, der offene Sonntag spaltet die Familien. Wir reden von Menschen, die um die 1.000 Euro netto im Monat verdienen, aber sich genötigt sehen, an Sonn- und Feiertagen im Laden zu stehen. Proteste dagegen helfen wenig, das Gesetz gibt den Konzernen die Macht in die Hand. Wer kann sich schon verweigern, wenn er nur über ­einen befristeten Arbeitsvertrag verfügt?
Dass es auch anders geht, zeigen der Nachbar Tirol oder auch Bayern. Dort gibt es an Sonn- und Feiertagen keine offenen Läden, in Bayern auch nicht an den Sonntagen vor Weihnachten, Die konservative CSU schützt die Arbeitnehmer. Das heißt: Man muss Forderungen der EU, die ja gerne liberalisiert (Sozialpolitik hat sie dafür ­keine), nicht willfährig nachkommen.
Wem bringt die Liberalisierung der Laden-öffnungszeiten etwas? Es bringt etwas den Gro­ßen, die genügend Personal zur Verfügung haben (und sonst vielleicht mit ihrer Mild- oder Sponsortätigkeit prahlen). Aber steigen die Umsätze auch wirklich oder verteilen sie sich nur anders? Die Kleinen trocknen aus – deren Angestellte müssten ja sieben Tage in der Woche im Geschäft stehen. Längere Öffnungszeiten bringen mehr Verkehr, wer am Sonntag bei der Fahrt zum Einkaufszentrum die Straßen verstopft, verschmutzt die Umwelt.

Was ist die Sozial- und Ökobilanz der liberalisierten Öffnungszeiten? Was bedeuten sie für unsere Lebensqualität? Ist es eine Steigerung oder eine Minderung der Lebensqualität, wenn es nicht einmal an diesem Tage eine Entschleunigung gibt?
Die Liberalisierung der Öffnungszeiten im Handel hat beträchtliche wirtschaftliche und soziale Sprengkraft – sie lässt viele Strukturen veröden. Es läge an uns, den Konsumenten, dafür zu sorgen, dass an Sonn- und Feiertagen die Läden wieder zu sind. Wir würden damit uns und den gut fünf Millionen Menschen, die von den liberalisierten Öffnungszeiten im Handel betroffen sind, etwas Gutes tun. Und vielleicht wachen ja auch die Sozialdemokraten wieder auf (auch in der SVP). Der Neoliberalismus hat sich ja schon längst als Trugbild erwiesen.

"Was ist die Sozial- und Ökobilanz ­deregulierter ­Öffnungszeiten im Handel? Was bedeuten sie für ­unsere Lebensqualität?"

Georg Mair

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