Leitartikel

Die Überraschung, die keine ist

Aus ff 39 vom Donnerstag, den 28. September 2017

Zitat
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Die Wahl in Deutschland hat gezeigt: Das Problem ist nicht die AfD, sondern das, was die Populisten groß gemacht hat. Jetzt können es sich die etablierten Parteien nicht mehr leisten, beim Thema Migration in Deckung zu gehen.

Was, bitte sehr, ist am Wahlergebnis in Deutschland überraschend? Nichts ist überraschend.
Seit Monaten hieß es: Die Merkel gewinnt haushoch, die Merkel ist konkurrenzlos. Wie der Effekt einer solchen Einschätzung auf potenzielle Merkel-Wähler ist, hätte man wissen können: Sie dachten sich, es schadet nicht, wenn ich anders wähle. Noch dazu, wo Frau Merkel seit einer gefühlten Ewigkeit regiert, sowieso eine Ewigkeit weiterregieren wird – und nun wirklich keine Stimmungskanone ist.
Glaubte wirklich wer, dass, wer anders wählt, das Listenzeichen von Martin Schulz ankreuzt? Dass jemand ernsthaft mit dem Gedanken spielte, Angela Merkel mit diesem grießgrämigen gelernten Buchhändler auszutauschen? Eben: Niemand glaubte das. Die Kandidatur Schulz zeigte, dass die deutschen Sozialdemokraten nicht bloß keine inhaltliche Alternative zur CDU/CSU zu bieten haben, sondern auch über eine unterirdische Personaldecke verfügen. Kurzum: Die Niederlage der SPD war vorhersehbar.
Das einzige überraschende Ergebnis lieferten die Grünen: Niemand hatte es vorausgesagt, für alle war klar, dass die Grünen, die den Deutschen ihre geliebten Diesel wegnehmen wollen, einen auf den Deckel bekommen. Aber eben: Hier ging es ums Überleben. Die düsteren Prognosen, die Gefahr, sogar unter die 5-Prozent-Marke zu rutschen, mobilisierten, erweichten die Herzen all jener, die irgendwie grün angehaucht sind. Ich vermute, die reale Stärke der Grünen in Deutschland wurde noch nie dermaßen präzise ausgelotet wie an diesem Sonntag: Es gibt von ihnen exakt 8,9 Prozent, nicht einen mehr, nicht eine weniger.
Überraschend ist also nicht der Wahlausgang, sondern die Tatsache, dass trotz des von allen erwarteten Ergebnisses die Hütte brennt. Über Nacht mutierte der Stabilitätsweltmeister zum Panikorchester. Von wegen Deutschland über alles. Schon ist in Berlin von italienischen Zuständen die Rede, sogar Neuwahlen werden nicht ausgeschlossen. Warum ist dies so?
Weil das Thema, welches den Wahlkampf beherrschte, mit den Wahlen nicht wie erhofft vom Tisch ist, sondern jetzt erst recht in aller Virulenz brodelt: das Thema Migration. Das Thema wurde unterschätzt – von Merkel, von der SPD, von den Grünen, von allen. Die Migration Hunderttausender vor allem junger Männer aus Nahost und Afrika ist nicht nur eine Frage von Humanismus und Großmut. Sie erfordert auch Maßnahmen in der Bewältigung dieses Phänomens.
Man redete, versicherte, beruhigte. Aber: Nach wie vor kommen Migranten übers Mittelmeer zu uns, nach wie vor weiß man nicht, wie mit all jenen verfahren werden soll, die keine Chance auf Asyl haben. Dazu die Meldungen über Delikte und sexuelle Übergriffe. Und dann ist da noch der islamistische Terror.
Allesamt heikle Themen, die gewiss nicht für einen Wahlkampf geeignet sind. Es sind Themen, die wie geschaffen sind für Wutbürger und populistische Schreihälse, die Feindbilder an die Wand malen – mit Erfolg, wie uns nicht erst dieser Sonntag gelehrt hat. Aber: Überraschend ist nicht, dass die Alternative für Deutschland jetzt im Bundestag sitzt. Überraschend ist, dass 90 Prozent der Deutschen diesen Sprücheklopfern nicht auf den Leim gegangen sind.
Nein, das Problem ist nicht die AfD. Die Politik darf nicht den Fehler begehen, Ursache und Wirkung zu verwechseln. Dies gilt übrigens auch für Südtirol, wo gewisse Politiker schon versuchen, auf den AfD-Zug aufzuspringen.
Von einer Regierung darf man sich erwarten, dass sie sich jenes Themas annimmt, das den Menschen – das lässt sich nicht wegdiskutieren – unter den Nägeln brennt: die Migration. Daran werden die Regierungen heute gemessen.
Ob CDU, CSU, Grüne und FPD in einem Jamaika-Vierer den Mumm dazu haben? Das schon wäre eine Überraschung. 

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