Leitartikel

Macht Selbstbestimmung frei?

Aus ff 44 vom Donnerstag, den 02. November 2017

Zitat
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Katalanische Separatisten und spanische Regierung rasen ungebremst aufeinander zu. Sie nehmen dabei einen Totalschaden in Kauf. Das passiert, wenn es ums Prinzip geht, wenn aus Politik Glaube wird.

Katalonien steht selbstbestimmt im Abseits. Und die Katalanen sind in Wahrheit weniger frei als vorher. Das Land ist gespalten, die Separation ist Gift für die Gemeinschaft (rund 40 Prozent der Bevölkerung sprachen sich für die Unabhängigkeit aus), mehr Autonomie auf dem Verhandlungsweg wird es jetzt nicht geben. Dafür wird die spanische Regierung sorgen, die genauso stur den Zentralismus verteidigt hat wie der (inzwischen abgesetzte) katalanische Regierungschef Carles Puigdemont die Loslösung von Spanien.
Die spanische und die katalanische Regierung wirken wie zwei Autofahrer, die ungerührt aufeinander zu rasen. Einen Totalschaden nehmen sie dabei in Kauf. Egal, es geht um das Prinzip, um Glaubensgrundsätze.
Bei den einen heißt die Religion Separatismus, bei den anderen Zentralismus. Ismen alle beide. Ismen führen oft ins Verderben. Egal, was passiert, die Provokationen in Katalonien gehen weiter. Und manchmal, wir wissen es, genügt ein Funke, um den friedlichen Protest umschlagen zu lassen in Gewalt. Sind beide Seiten stark genug, um sich zu beherrschen? Zu jubeln gibt es in dieser Situation freilich wenig. Was gibt es auch zu jubeln, wenn Menschen einem Phantomprojekt gefolgt sind, sich Illusionen gemacht haben?
Die Selbstbestimmung in Katalonien lässt auch in Südtirol feuchte Träume von der Unabhängigkeit entstehen, bei den rechten Selbstbestimmungs-Propagandisten von der Südtiroler Freiheit und den Freiheitlichen und bei den linken Selbstbestimmungs-Propagandisten von der „Brennerbasisdemokratie“.
Beide machen den Menschen etwas vor. Selbstbestimmung wäre nur möglich, wenn den Südtirolern ihre Freiheitsrechte genommen würden, wenn in Rom eine autoritäre Regierung am Ruder wäre, die das Land knechtet, ihm zum Beispiel seine autonomen Zuständigkeiten entzieht. Weder in Rom noch in Madrid sind Faschisten an der Regierung, da wie dort ist eine demokratisch gewählte Regierung an der Macht.
Gibt es in Südtirol (oder in Katalonien) jemanden, der unfrei ist, nicht seine Meinung sagen kann, unterdrückt wird, der wegen seiner politischen, religiösen Überzeugungen oder seiner sexuellen Orientierung verfolgt wird? Sind die Südtiroler oder die Katalanen ein bedrohtes Volk, gar ein Fall für die Gesellschaft für bedrohte Völker? Nein, Südtirol ist frei, der böse Staat schützt sogar die Freiheit der Schützen, wenn sie für ein „Los von Rom“ auf die Straße gehen.

Wozu also der Ruf nach Selbstbestimmung? Um eine Wunde offen zu halten? Um Konflikte zu provozieren? Um politisch abzusahnen? Um Ängste zu schüren, weil man dann Menschen leichter bewegen kann? Ist es reiner Idealismus, mit dem freilich keine Politik zu machen ist, der keinen Kompromiss kennt und schlussendlich unwillentlich in Nationalismus endet? Ist es der magische Glauben an die Regionalisierung Europas als Heilmittel für alle Übel? Oder ist Selbstbestimmung ein Egoismusprojekt? Uns, den reichen Südtirolern oder Katalanen ist es egal, wenn es den Nachbarn schlecht geht.
Freilich, Carles Puigdemont ist jetzt ein Held, der ein Märtyrer werden will – hoffentlich ist die spanische Justiz nicht so blöd, ihn einzusperren. Ihn muss man laufen lassen, man darf ihm nicht noch die Bühne bauen.
Die spanische Regierung hat die Pflicht, die Verfassung zu schützen. Was wäre das für eine Regierung, die das nicht täte? Wenn schon, dann muss es das Anliegen der Katalanen sein, die Verfassung zu ändern, für mehr Autonomie der Regionen zu sorgen, nicht nur für die eigene. Bündnispartner zu suchen und zu verhandeln, verhandeln, verhandeln. Bis es eine Autonomie gibt, die schon an Selbstbestimmung grenzt, wie in Südtirol.
Silvius Magnago & Co. haben es vorgemacht. Sie waren die Helden der zähen Diplomatie. Und hatten Erfolg. Gewähren wir im Notfall Carles Puigdemont Asyl, er könnte in Südtirol lernen, dass es keine formelle Unabhängigkeit braucht, um selbstbestimmt zu sein.

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