Leitartikel

Vor der eigenen Türe kehren

Aus ff 50 vom Donnerstag, den 13. Dezember 2018

Zitat
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Vor 70 Jahren haben die Vereinten Nationen die Erklärung der Menschenrechte verabschiedet. Heute treten wir sie immer noch mit Füßen – vielleicht mehr denn je.

Der Diciotti wird, nachdem sie 150 Menschen aus dem Mittelmeer vor dem Ertrinken gerettet hat, die Einreise in einen italienischen Hafen verwehrt. Stattdessen wird diskutiert, wie die Grenzen vor „Illegalen“ besser geschützt werden können. So hat es Innenminister Matteo Salvini im Juli 2018 verfügt.
Jeder hat das Recht, in anderen Ländern vor Verfolgung Asyl zu suchen und zu genießen, heißt es in Artikel 14 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, verbschiedet im Dezember 1948.
Menschenrechte. Sie stehen uns zu. Einfach weil wir Menschen sind. Sie sind der Schlüssel zu einer friedlicheren Welt, Antworten auf Krisen. Vor 70 Jahren wurden sie verabschiedet. Heute treten wir sie immer noch mit Füßen.
1948. Unter dem Eindruck der 70 Millionen Toten des Zweiten Weltkrieges und trotz Beginn des Kalten Krieges einigten sich am 10. Dezember 48 Staaten auf die Allgemeine Menschenrechtserklärung. Ein Text, der die Würde des Menschen, seine Unantastbarkeit, in den Mittelpunkt stellt. Mit 30 Artikeln wollen die Staaten eine gemeinschaftliche Grundlage schaffen. Recht auf Leben und Freiheit, Gleichheit vor dem Gesetz, Recht auf Eheschließung und Familie – nur drei Rechte aus der Charta des Weltgewissens.
Auch wenn es eine Absichtserklärung, kein Gesetz ist: Die weltweit geltenden, nicht verhandelbaren Rechte der Vereinten Nationen markierten einen gewaltigen Einschnitt in der Menschheitsgeschichte. Doch was vor 70 Jahren ein Meilenstein war, scheint heute ein verstaubtes Dokument, dessen Inhalte wahrscheinlich die wenigsten wiedergeben können.
Man könnte jetzt den Zeigefinger heben und sie alle aufzählen, die Putins, Erdogans und Orbáns. Man könnte einen Blick nach Saudi-Arabien, Syrien, auf die Philippinen werfen. Es sind immer die anderen, die Rechte missachten. Dabei müssen wir uns gar nicht so verrenken. Mal nach links und rechts schauen, und schnell wird klar, dass sich auch hierzulande wenige im Geist der Brüderlichkeit begegnen (Artikel 1), dass Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politische Überzeugung und nationale Herkunft sehr wohl eine Rolle spielen (Artikel 2) und einige Unternehmen das Recht auf befriedigende Arbeitsbedingungen (Artikel 23) eher nicht einhalten.
Noch nie seit der Verkündung hat die Erklärung der Menschenrechte so sehr an Glaubwürdigkeit verloren wie heute. Auch in Europa, Italien, Südtirol spiegeln sich Entwicklungen wider. Sie zeigen sich in der Behandlung von Geflüchteten, steigenden Gewalttaten gegen Frauen, Hasskommentaren, Schuldzuweisungen, Rassismus.
Natürlich können wir über Politiker und Unternehmer schimpfen. Doch sollten wir nicht vergessen, dass wir selbst der Grund sind, warum sich nichts ändert.
Wenn wir weiter machen wie gewohnt, indem wir glauben, nichts davon gehe uns etwas an. Wenn wir Politiker und Banken unterstützen, die die tödliche Rüstungsindustrie speisen. Wenn wir Geld bei Kleidung sparen, die Kinder nähen, weil Fairtrade doch so teuer ist, uns am Abend aber den besten Wein aus der Karte bestellen. Wenn wir nicht mit klarer Position auf die Straße gehen, stattdessen schweigend Unsagbares sagbar werden lassen.

Wollen wir wirklich so tun, als läge die Wurzel des Problems woanders? Dann müssen wir bitte aber auch aufhören zu jammern. Über ungerechte Bildungspolitik, schlechte Bezahlung, über mangelnde soziale Schutzmaßnahmen. Denn wenn nicht einmal wir in unseren euro-
päischen Sozialstaaten unsere Rechte verteidigen – wie sollen das dann andere machen?
Täglich sollten wir einfordern, was wir und unsere Mitmenschen brauchen, was uns zusteht. Nicht müde werden, diesen Diskurs zu führen, uns zusammenschließen und Gehör verschaffen. Und vielleicht auch mal darüber nachdenken, ob eine Neuauflage nötig wäre, um anzupassen, was eine Gesellschaft 70 Jahre später braucht. Haben wir nicht auch das Recht auf Transparenz? Zu wissen, was in Lebensmitteln steckt, die wir kaufen, wo die Kleidung, die wir tragen, wirklich produziert wurde? Haben wir nicht auch das Recht auf würdevolles Altern? Auf globale Wah­len in einer Welt, die zusammenwächst?
Es gibt viele Überlegungen, viele Möglichkeiten und nur einen Weg zur Veränderung: die Courage, es zu wollen. 

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