Leitartikel

Die Litanei der Wirtschaft

Aus ff 25 vom Donnerstag, den 20. Juni 2019

Der Präsident des Südtiroler Unternehmerverbandes fordert von der öffentlichen Hand: Sparen. Und meint: Alles, was die Privaten machen, ist gut. Doch eine soziale ­Markt­wirtschaft erfordert etwas anderes.

Federico Giudiceandrea, der Chef des Südtiroler Unternehmerverbandes, betet jede Woche einen Rosenkranz. Die moderne Form des Rosenkranzes, der nicht selten wie dessen traditioneller Bruder in ein Geleier übergeht, ist die Pressemitteilung oder ein Interview. Bevorzugt in den Dolomiten, die Giudiceandrea nutzt, um der Landesregierung die Leviten zu lesen.

Federico Giudiceandrea, ein erfolgreicher Unternehmer, Kunstsammler, perfekt zweisprachig, ist ein gläubiger Mensch. Wir wissen nicht, ob er in die Sonntagsmesse geht oder nicht. Aber wir können aus seinen Äußerungen ableiten, dass er fest davon überzeugt ist, dass ein Privater besser wirtschaftet als die öffentliche Hand, dass man die Verwaltung verschlanken und dass die Landesregierung sparen muss.

Das wiederholt die Südtiroler Wirtschaft seit Jahren wie das Gegrüßet seist du Maria beim katholischen Rosenkranz. Es ist ihr gutes Recht, für ihre Interessen einzutreten. Aber man soll nicht glauben, dass es die Interessen aller sind. Denn gerade die Wirtschaftskrise von 2008 hat gezeigt, dass auch die Privaten, vor allem die Banken, sehr unverantwortlich handeln können, wenn man ihnen keine Grenzen setzt.

Die Krise, die Italien heute noch spürt, war eben nicht die Folge von zu viel, sondern von zu wenig Regeln. Es geht nicht immer allen gut, wenn es der Wirtschaft gut geht. Das ist sogar im Wohlstandsland Südtirol so, wo es kaum Arbeitslosigkeit gibt, wo die Wirtschaft boomt.

Was funktioniert nun besser, wenn die öffentliche Hand zur Seite tritt?

Der öffentliche Verkehr? In Südtirol hat die öffentliche Hand ihn einem privaten Anbieter ausgeliefert, der mit den Gewerkschaften und dem Land im Dauerstreit liegt.

Die Wasser- oder die Stromversorgung? Dort, wo sie privatisiert wurden, sind die Tarife gestiegen, die Investitionen in die Infrastruktur gesunken, Menschen haben keinen Zugang zu Wasser mehr, weil ihnen bei Säumigkeit sofort der Hahn abgedreht wird. Der private Verkehr? War ein Privater oder der Staat zuständig für die Wartung der Autobahnbrücke in Genua, bei deren Einsturz 43 Menschen ums Leben kamen? Es war eine private Gesellschaft – auch hier gab es nicht zu viel, sondern zu wenig Kontrolle durch die öffentliche Hand.

Eine soziale Marktwirtschaft erfordert eine Balance zwischen den Interessen der Öffentlichkeit und den Interessen der Wirtschaft. Das Interesse der Wirtschaft ist: Gewinn. Das Interesse der öffentlichen Hand muss sein: eine gerechte Verteilung von Reichtum und Vermögen, eine Wirtschaft, die Natur und Umwelt respektiert, die den Menschen ein auskömmliches Einkommen garantiert. Alles andere sprengt auf die Dauer eine Gesellschaft, hebelt Demokratie aus, wenn der Gesetzgeber den Kapitalismus nicht zähmt.

Die Balance hat sich weltweit schon lange zugunsten der Wirtschaft verschoben, zugunsten einer liberalen Marktwirtschaft, die Arbeit flexibilisiert, Sozialsysteme reduziert, Produktionsstätten auslagert, Arbeitsplätze im Namen der größtmöglichen Rendite abbaut oder auslagert. Und dann auch noch flott eine Verschlankung der Verwaltung verlangt. Was heißt das? Dienste reduzieren, Personal abbauen, privatisieren?

Ist es das Ziel des Unternehmerverbandes, eine ungerechtere Gesellschaft zu schaffen? Wahrscheinlich nicht, aber warum nimmt man sich nicht selber in die Verantwortung, wenn es um Investitionen, billigere Wohnungen, gerechtere Löhne geht? Da solle es dann die öffentliche Hand richten. Durch Sozialleistungen, billigen Wohnraum, „strategische Investitionen“. Man fordert einerseits weniger, andererseits mehr Staat.

Liebe Unternehmer: Respekt vor Ihrer Leistung, vor der Schaffung von Arbeitsplätzen, Ihrer Innovationsfreude. Noch größer wäre der Respekt, würden Sie nicht immer den Rosenkranz der reinen Lehre herunterbeten (Sparen bei öffentlichen Ausgaben, Abbau von Regeln für den Schutz von Mensch und Natur), sondern uns etwas Neues erzählen, wie wir (alle) wirklich vorankommen.

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