Die Anzahl der Parlamentarier wird drastisch reduziert. Über einen historischen Sieg der Populisten – und die Probleme, die ungelöst bleiben.
Leitartikel
Über Nazis und andere Idioten
Aus ff 42 vom Donnerstag, den 17. Oktober 2019
Das vereitelte Massaker von Halle zeigt, wie schwer wir uns mit den erklärten Feinden der Demokratie tun. Wer zulässt, dass Toleranz zu einem Freibrief für Intoleranz werden kann, rüttelt am Fundament unserer freien Gesellschaft.
Das nur mit Glück vereitelte Massaker in der Synagoge von Halle, das allerdings zwei Menschen das Leben gekostet hat, rückt ein heikles Thema ins Bewusstsein: den Umgang der Demokratie mit jenen, die ebendiese Demokratie abschaffen wollen – egal, ob mit verbaler Gewalt oder mit selbst gebastelten Gewehren, die im entscheidenden Moment – zum Glück – ihren Dienst versagen.
Demokratie zeichnet sich durch Toleranz aus. Es gehört zu den größten Errungenschaften west-
licher Gesellschaften, dass jeder und jede seine Meinung kundtun darf – selbst dann, wenn es sich dabei um offenkundigen Unfug handelt.
Aber Toleranz droht ein Freibrief für Intoleranz zu werden. Laut einem in Deutschland erlassenen Urteil ist es zum Beispiel kein Delikt, eine Politikerin wie die Grüne Renate Kühnast als – so wörtlich – „Drecksau“, „Schlampe“ und „Stück Scheiße“ zu bezeichnen. Laut Berliner Landgericht handelt es sich dabei um einen – festhalten! – „Beitrag in einer Sachauseinandersetzung“. Das Urteil kam nicht überraschend: Bereits 2017 war eine Klage von Alice Weidel abgewiesen worden: Die AFD-Politikerin war von einer „Satire-Sendung“ als – so wörtlich – „Nazi-Schlampe“ tituliert worden. Ihre Verleumdungsklage wurde vom Hamburger Gericht abgewiesen.
Mitten unter uns leben Menschen, die auf diese Gesellschaft oder Teile davon einen blanken Hass nähren – aus politischen, religiösen oder was immer welchen Gründen. Und die zumindest potenziell bereit sind, jenen, die sie zu Feinden und Sündenböcken erklärt haben, den Hass spüren zu lassen. Der Täter von Halle ist ein junger Neonazi, wie es sie zu Tausenden gibt – einige wenige auch in Südtirol. Auch wenn sie nicht zum Gewehr greifen, sondern ihre grausige Ideologie in Internetforen oder am Stammtisch auskotzen, die Frage bleibt: Wie umgehen mit ihnen?
Die Achillesferse der Demokratie ist deren Umgang mit ihren Feinden. Das wissen diese und nutzen es aus. Der Terror der Islamisten hat nicht nur Menschenleben gefordert, sondern uns auch die Augen geöffnet: Überall in Europa gibt es Stadtviertel, in denen der Staat die Kontrolle aufgegeben hat. Dort herrschen eigene Gesetze – „Gesetze“, die diametral im Gegensatz zu all dem stehen, was Demokratie ausmacht. Der Staat scheint überfordert, drückt die Augen zu.
Wiederbetätigung ist verboten und steht unter Strafe. Das hindert Nazis weder in Deutschland noch in Italien, offen als Nazis aufzutreten. Der Staat lässt gewähren – auch im Namen einer missverstandenen Toleranz.
Internet ist eine fantastische Erfindung und – wenn man so will – der Triumph der Demokratie. Aber das Internet ist außer Kontrolle geraten. Jeder Teenager kennt die Tricks, die zu Verbotenem und Abscheulichkeiten führen. Zwei Klicks, und ich kann eine Dosis Heroin frei Haus bestellen, Nazi-Propaganda herunterladen, einen Grundkurs in Sachen Dschihad absolvieren. Kurios: Sobald der Vorschlag auftaucht, auch im Internet das Gesetz zur Anwendung zu bringen, brandet ein Sturm der Entrüstung auf: Zensur!
Meine Freiheit endet dort, wo die Freiheit der anderen beginnt. Eine Binsenwahrheit, möchte man glauben. Aber dem ist nicht so, wenn man weiß, dass der Täter von Halle, der die Freiheit anderer gewaltsam beenden wollte (im konkreten Fall: jüdischer Mitbürger), Gesinnungsgenossen hat – und zwar mehr, als uns lieb sein kann.
Aufgabe der Demokratie ist es, Nazis und anderen Idioten das Handwerk zu legen – und zwar möglichst, bevor sie losschlagen. Egal, ob mit rechtem oder linkem, mit katholischem oder muslimischem Hintergrundrauschen, der Artikel 3 der Verfassung markiert die Grenze. Ich zitiere: Alle Bürger haben die gleiche gesellschaftliche Würde und sind ohne Unterschied des Geschlechts, der Rasse, der Sprache, des Glaubens, der politischen Anschauungen ... vor dem Gesetz gleich.
Ein demokratischer Staat, der sich ernst nimmt, hat dafür zu sorgen, dass dieser Verfassungsartikel respektiert wird. Von allen. Ohne Wenn und Aber.
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