Leitartikel

Wegschauen gilt nicht

Aus ff 07 vom Donnerstag, den 13. Februar 2020

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Gewalt gegen Frauen ist weder eine Privat- noch eine reine Frauensache. Wir alle sind gefordert – und zwar schnell.

Wenn einmal wieder das Äußerste passiert, dann ist das Entsetzen groß. Wenn wieder eine Frau ermordet wurde, dann fragen viele nach dem Warum. Dann werden für das Geschehene schnell Erklärungen gesucht – und oft auch ebenso schnell gefunden. Kulturspezifische Gründe, psychologische oder auch milieubedingte.

Das ist bis zu einem gewissen Grad verständlich und legitim. Nicht verständlich ist, wenn das große Ganze dahinter jedes Mal aufs Neue verblasst und von der Gesellschaft nach wie vor kaum gesehen wird. Nämlich: Gewalt an Frauen ist allgegenwärtig. Es ist ein Problem, das uns alle angeht. Denn die Wahrscheinlichkeit, dass wir alle in unserem Umfeld Betroffene haben, ist ziemlich groß.

Mehr als 600 Frauen haben sich im Jahr 2018 an Frauenhäuser oder entsprechende Kontaktstellen im Land gewandt. Es sind in erster Linie einheimische Frauen, die Opfer von häuslicher Gewalt werden; 65 Prozent der Frauen, die sich an Kontaktstellen wandten, waren italienische Staatsbürgerinnen. In den Frauenhäusern waren es 37 Prozent. In zwei Drittel der Fälle wurden die Frauen Opfer von Gewalt durch Partner oder Ehemann; in 20 Prozent der Fälle durch den ehemaligen Partner.

Im vergangenen Jahr gab es zwei Mordversuche an Ex-Partnerinnen in Südtirol. Im Jahr 2018 vier Frauenmorde. Vor wenigen Tagen wurde in Vierschach eine schwangere 27-Jährige geschlagen und schließlich erstickt – tatverdächtig ist ihr Ehemann.

In Italien wird fast jeden dritten Tag eine Frau von ihrem Ehemann, Lebenspartner oder einem anderen Familienangehörigen getötet. Frauenmorde machen 40 Prozent aller im Land begangenen Tötungsdelikte aus.

Wann wird Liebe zur Qual? Wie kommt es, dass Frauen sich in einem Netz aus Leid, Angst und Misshandlung gefangen finden? Was treibt einen Mann dazu, gewalttätig zu werden gegenüber seiner Frau, seiner Partnerin oder Ex-Freundin? Vor allem aber: Lässt sich solche Gewalt verhindern?

Frauen sterben, weil sie Frauen sind. Leider bleiben die Taten meist dort, wo sie passieren: hinter verschlossenen Türen. Gerne wird vor allem dann ausführlicher berichtet, wenn die Tat von einem nicht einheimischen Ehemann begangen wurde. Ist der Täter aber ein Südtiroler, wird die Tat gerne als privates Problem der Frau verstanden. Man spricht dann von einem „Familien-drama“ oder einer „Beziehungstat“.

Gewalt gegen Frauen ist aber alles andere als eine private Angelegenheit. Gewalt gegen Frauen zieht sich durch alle gesellschaftlichen Schichten. Wegschauen ist keine Option. Wir alle sind gefordert, aufmerksam zu sein. Und das nicht nur am Internationalen Tag gegen Gewalt an Frauen.

Es braucht mehr Raum für Kampagnen, die Gewalt gegen Frauen direkt ansprechen. Es braucht mehr Zeit, und wohl auch Geld, für Aufklärungsarbeit. Vor allem bei Buben. Diese Gewalt ist das Ergebnis eines verkehrten Verständnisses von Männlichkeit. Männer wird leider vielfach immer noch gelehrt, Gefühle zu unterdrücken. Männlichkeit und Stärke, Aggression und Gewalt sind so eng miteinander verwoben, dass der Zusammenhang gerne nicht mehr auffällt.

Es fängt damit an, wie wir als Gesellschaft über Gewalt gegen Frauen reden. Denn tief in der Sprache lebt die alte Geschlechterordnung weiter. Je nachdem, wie wir miteinander sprechen, wird auch eine bestimmte Weltwahrnehmung verstärkt. Eine Gesellschaft darf sich nicht zufrieden damit geben, dass Frauen in so vielen Bereichen immer noch die verletzbarere und vernachlässigtere Hälfte sind.

Der österreichische Lyriker Erich Fried macht in seinem Gedicht „Die Gewalt“ deutlich, dass Gewalt über körperliche Gewalt weit hinausgeht. „Die Gewalt fängt nicht an, wenn einer einen erwürgt. Sie fängt an, wenn einer sagt: ‚Ich liebe dich: du gehörst mir!‘“ So beginnt das Gedicht. Und es endet damit: „Die Gewalt kann man vielleicht nie mit Gewalt überwinden, aber auch nicht immer ohne Gewalt.“

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