Südtirol im Krisenmodus: Wie wir gegen das Virus kämpfen. Titelgeschichte in ff 12/20
Leitartikel
Schluss mit all dem Neid
Aus ff 14 vom Donnerstag, den 02. April 2020
Schluss mit all dem Neidovid-19 hat es geregelt: Zum ersten Mal halten alle Branchen und Gesellschaftsschichten zusammen. Halten wir daran fest.
Keine zwei Monate ist es her. Es war am 10. Februar im Vereinshaus von Prags. Die Stimmung war angespannt, drohte zu kippen. Ich moderierte eine Bürgerversammlung zum Thema Tourismusboom. Wie kann die einzigartige Landschaft rund um den Pragser Wildsee vor den Selfiejägern aus aller Welt geschützt werden?
Gemeint waren die 1,6 Millionen Tagesgäste im Jahr, die für ein schnelles Selfie nach Prags kommen. An diesem Abend fielen Worte wie Kontingentierung und Kanalisierung der Besucherströme. Es war die Rede von Overtourism und Verkehrskollaps. Alle im Saal waren sich einig: Es braucht eine Lösung.
Keine zwei Monate später ist das Problem vom Tisch. Covid-19 hat es geregelt. Ganz allein und mit einer Brutalität, die selbst die weitsichtigsten Hoteliers niemals für möglich gehalten hätten. Südtirols Hotels sind seit über drei Wochen geschlossen. Kein einziger Gast blieb übrig.
Der Tourismus hat eine Vollbremsung hingelegt, wie sie niemand erahnen konnte. Die Frühjahrssaison ist gelaufen, der Sommer steht in den Sternen und selbst für das Törggelen im Herbst gibt es reihenweise Stornierungen. Hoteliersfamilien stehen am Rande der Verzweiflung. Genauso wie Tausende ihrer Mitarbeiter und damit tausende von Familien. Sie kämpfen um ihr Überleben.
Die vergangenen Jahre haben viele Hoteliers zu viel, zu hoch, zu teuer gebaut. Mit zu wenigen eigenen und zu vielen fremden Mitteln. Nicht nur dafür wurden sie, zum Teil zur Recht, kritisiert. Denn nicht nur einmal wurden Gesetzes-lücken in Raum und Landschaft genützt, um der Natur ein Schnippchen zu schlagen. Zum Teil erfolgte die Kritik aber auch aus purem Neid. Nach dem Motto: Die Schmattigen dürfen alles.
Von solchen Aussagen ist heute nichts mehr zu hören. Nicht nur, da bewusst wird, wie viele am Tropf des Tourismus hängen. Sondern, da es quer durch alle Branchen und Gesellschaftsschichten zum ersten Mal um wahren Zusammenhalt geht. Vielleicht sogar zum ersten Mal seit dem zweiten Weltkrieg. Was haben wir die vergangenen Jahre und Monate auf Politiker, Unternehmer, Touristiker und auch Ärzte geschimpft. Zum Teil begründet, zum Teil aus reiner Polemik. Aus sozialem Neid, das Nörgeln haben wir uns über Jahre angeeignet.
Quasi über Nacht ist nichts mehr sicher. Weder unser menschliches noch unser finanzielles Überleben. Die einen trifft es härter, die anderen werden auch dieses Mal mit einem blauen Auge davonkommen.
Nur das Virus selbst macht keinen Unterschied. Es trifft jeden, es behandelt alle gleich, macht selbst vor einem Politiker wie Boris Johnson und einem Adeligen wie Prinz Charles nicht Halt.
Plötzlich scheint alles irrelevant, was uns vor Kurzem noch wie ein Drama erschien. Die langen Wartezeiten in der Erste Hilfe, das Sicherheitsproblem in den Städten, die langen Staus entlang der Hauptverkehrsachsen, der Ausbau des Bozner Flughafens. Der Wolf genauso wie der Bär. Greta genauso wie Meghan. Covid-19 lässt alles beliebig erscheinen. Was gestern noch böse Zungen lästern ließ, ist plötzlich alles halb so wild. Stammtischparolen sind spätestens seit dem 12. März, als auch die letzte Theke dicht machen musste, verstummt.
Wie oft hört man dieser Tage, nichts wird so sein wie früher. Die Liste unserer Vorsätze ist lang, viel länger als jede Neujahrsliste. Nach dieser gruseligen Krise, so schwören wir, werden wir unser Leben, unser Verhalten ändern. Wir werden unseren Kurs wechseln. Wir werden unsere Natur wieder mehr wertschätzen. Wir werden mit Familie und Freunden wieder länger und intensiver kommunizieren. Kurzum: Wir werden bessere Menschen sein.
Mal schauen, was von all diesen ehrgeizigen, schönen und manches Mal auch superschlauen Vorsätzen übrig bleibt. Der Wille jedenfalls ist da, das spürt man. Und vielleicht gelingt es uns sogar, und das wünsche ich mir, ein Stück weit unseren Neid abzulegen. Und zwar nicht nur, solange das Virus unser Leben bestimmt.
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