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Leitartikel
Die Stunde der Egos
Aus ff 18 vom Donnerstag, den 30. April 2020
Jetzt rufen alle nach Lockerungen. Südtirol beansprucht eine Sonderrolle. Achten wir auf unsere Freiheit, ja, aber gehen wir sorgsam mit ihr um. Denn es gibt sie nur, wenn nicht jeder nur auf sich selbst achtet.
Nach der Befreiung Italiens vom Faschismus kommt der Partisan „Enne 2“ heim und bringt Brot und Rosen mit. Und die Befreiung. Die Befreiung für jeden Einzelnen. Je größer die Befreiung für jeden Einzelnen sei, umso größer werde sie für die Gesellschaft sein.
„Uomini e no“ ist ein großes, fast vergessenes Stück italienischer Literatur, das in diesen Tagen oft zitiert worden ist. Am 25. April, dem Tag der Befreiung vom Faschismus, wird der Roman gerne entstaubt. Er stellt eine wichtige Frage, die gerade jetzt aktuell ist: Was fangen wir mit unserer Freiheit an? Nicht dass wir einen Krieg hinter uns hätten. Wer von Krieg redet oder die Ausgangsbeschränkungen als Vorboten des Faschismus sieht, verharmlost Krieg und Faschismus.
Doch die Frage bleibt: Was bedeutet Freiheit, gerade in einer Krise wie der Corona-Pandemie, in der Grundrechte beschränkt werden? Wie gehen wir damit um, wenn wir jetzt wieder über mehr Freiheiten verfügen? Manche erleben die Lockerung der Ausgangsbeschränkungen als Befreiung, auf Facebook rufen ein paar Irregeleitete zu so etwas wie einem Freiheitskampf auf und bauen einen Galgen für Politiker auf.
Sie vergessen, dass der Umgang mit Freiheit richtig, maßvoll, vernünftig sein muss. Die Freiheit hat ihre Grenzen, in der Freiheit der anderen und ihrem Bedürfnis nach Sicherheit. Das Bedürfnis nach Sicherheit ist genauso legitim wie das Bedürfnis nach Freiheit.
Freiheit heißt auch, für andere Sorge zu tragen, als Einzelne und als Gesellschaft. Freiheit ist auch Verpflichtung, die Dinge abzuwägen, die Worte angemessen zu wählen – auch die mediale Übertreibung, das Wutbürgergerede, das die Sicht vernebelt, die Hetze im Internet, die Verschwörungs-theoretiker sind Feinde der Freiheit. Wer jetzt schnell und streng urteilt, tut so, als wäre er nicht genauso fehlbar wie die Regierenden. Regierungen haben die Pflicht, die Bürgerrechte zu gewährleisten, unsere Freiheit, aber sie haben auch die Pflicht, die Gesundheit der Bürgerinnen und Bürger zu schützen. Deshalb kann der Staat, wie er es im Moment tut, die Freiheit und die Freizügigkeit der Bürger einschränken.
Achten wir also auf die Freiheit, nicht nur auf unsere, achten wir auf unsere Rechte. Aber jetzt, so scheint es manchmal, denkt jeder nur an seine Freiheit. Es ist gerade die Stunde der Egos.
Der Unternehmer, die so schnell wie möglich wieder voll produzieren wollen (andererseits verlangen sie jetzt nach der Hilfe des Staates; vorher haben sie die ordnende Hand des Marktes gepriesen).
Der Gastwirte, Hoteliers und Schutzhütten-betreiber, die so schnell wie möglich wieder aufsperren wollen.
Der Eltern, die ihre Kinder wieder schnell in den Kindergarten und die Schule schicken wollen.
Der Profi-Fußballclubs, die wieder trainieren und spielen wollen.
Der Betreiber der Einkaufszentren, die schon morgen wieder öffnen wollen, damit die Leute am nächsten Sonntag dort spazieren gehen können.
Der SVP, die für Südtiroler eine Sonderstellung einfordert. Südtirol ist, wie zu normalen Zeiten, wieder der Nabel der Welt.
Muss man sie daran erinnern, dass die Freiheit zu produzieren, sich zu amüsieren, zu joggen, Fußball zu spielen, auch mit der Verantwortung einhergeht, dafür zu sorgen, dass auf die erste Welle von Covid-19 nicht eine zweite folgt, dass in dieser Lage jeder zurückstecken muss, dass es gilt, darüber nachzudenken, ob nach der Krise vor der Krise sein kann, ob wir mit derselben Geschwindigkeit fahren können wie vorher. Muss man sie daran erinnern, dass wir nur gemeinsam aus der Krise kommen, indem wir auf uns achten und auf die anderen.
Ja, man muss.
Wir befinden uns erst im Aufwachraum der Krise. Gehen wir sorgsam mit der Freiheit um. Verspielen wir sie nicht. Freiheit erringt man nicht allein, sondern nur gemeinsam.
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