Leitartikel

Menschlichkeit und Mut

Aus ff 01 vom Donnerstag, den 07. Januar 2021

Leitartikel Georg Mair
Die schnelle Entwicklung eines Impfstoffs hat bewiesen, was geht, wenn wir es nur wollen. © FF Media
 

2020 war von Corona beherrscht. Es hat alles andere an den Rand gedrängt. ­Worüber wird 2021 dringend reden müssen. Und wofür es lohnt, mit derselben Kraft zu kämpfen wie gegen das Virus.

Was von 2020 bleibt.

Ein Leben, das von der Pandemie beherrscht war. Von der Hilflosigkeit der Politik. Und von ihrer Großsprecherei. Der Massentest: ein Befreiungsschlag. Die ersten Impfungen gegen Covid-19: der Beginn einer neuen Epoche. Der Südtiroler Sonderweg: ein Modell.

Es war das Jahr der Experten (die in ihren Prognosen zur Entwicklung der Pandemie oft kläglich danebenlagen), der Covid-Karrieren (ein emeritierter Universitätsprofessor aus dem Sarntal wird zum Medienstar, der sich vor laufender Kamera als Erster gegen Covid-19 impfen lässt).

Es war das Jahr der Unfreiheit, in der die Sicherheit alles überwog, in dem sich bürgerliche Rechte ganz einfach beschränken ließen (wenn uns das nur nicht bleibt!). Und der trügerischen Hoffnung: Zuerst Lockdown, dann Befreiung, ward uns versprochen. Aber es war dann so: Lockdown-Befreiung-Lockdown-Befreiung und so weiter, bis sehr viele Menschen einen Impfstoff bekommen haben werden.

Schön wäre es, würde 2021 die Politik ehrlich eingestehen, dass und wo sie versagt hat. Die Pandemie hat vieles offengelegt, aber vor allem eines: wer im Land Macht hat (Hoteliers, Handwerker, Kaufleute) – und wer nicht (Kultur), wie mutlos die Politik ist, wenn es darum geht, rechtzeitig Maßnahmen zu setzen, das Richtige zu tun – selbst wenn es nicht bequem ist. Und wie zahm die Opposition ist. Anderswo sind die Debatten viel härter. Südtirol ist immer noch das Land des schnellen Schulterschlusses. In der Krise herrscht Schweigen – selbst die Medien begleiteten die Maßnahmen der Politik oft sehr gnädig.

Und 2021?

Müssen wir zum Beispiel mehr reden. Ohne Debatte, ohne Transparenz, gibt es keine Demokratie.

Darüber reden etwa, wie das Gesundheitswesen aufgestellt und organisiert ist und ob dort die richtigen Leute an der Spitze stehen. Warum die Opposition im Landtag so leise ist – so als würde sie sich darauf vorbereiten, 2023 Regierung zu werden. Wie sich ehrlich kommunizieren lässt, ohne in Phrasen zu verfallen oder die Dinge zu beschönigen. Ob wir wirklich gut verwaltet werden und von den richtigen Leuten. Wie sich Schule – digital hin oder her – inhaltlich neu denken lässt. Wie wir den Reichtum im Land gerecht verteilen. Wie wir verhindern, dass die Arbeitslosigkeit steigt. Wie wir Krankenschwestern, Putzfrauen, Kassiererinnen, Busfahrer, Polizisten und alle die Heldinnen und Helden der Krise ordentlich entlohnen.

Ach, da war doch noch etwas. Das Klima. Wir wissen, dass die Temperaturen steigen, wir wissen, was zu tun wäre. Und tun zu wenig, viel zu wenig. Über den Klimawandel wissen wir Bescheid, die Pandemie hat uns unvorbereitet überfallen. Die Leugner von Klimawandel und Covid-19 sind freilich oft die gleichen.

Die Welt hat gezeigt, wie viel Energie sie mobilisieren kann, um eine Katastrophe abzuwenden. Warum tut sie das bei Covid-19 und nicht bei der Klimakatastrophe, die unabwendbare Folgen haben wird, wenn wir nicht handeln? Mit Appellen an die Eigenverantwortung allein geht das nicht, das hat die Pandemie bewiesen. Warum wenden wir nicht dieselbe Kraft wie in der Bekämpfung gegen das Virus auf, um Reichtum und Vermögen gerechter zu verteilen? Oder wenn es um die Gleichstellung der Geschlechter geht, oder um zu verhindern, dass Frauen getötet werden? Es wäre nicht so schwer, wir brauchen dazu keinen Impfstoff. Warum setzen wir die Kraft nicht ein, um den Flüchtlingen zu helfen, die in Bosnien an der Grenze zu Kroatien in ungeheizten Zelten ausharren, warum setzen wir sie nicht ein für die Flüchtlinge aus Lesbos, die im Dreck leben, wo die Kinder von Ratten gebissen werden, sie nicht mehr leben wollen? Das Jahr würde gut beginnen, wenn wir, in Südtirol, 100 von ihnen aufnehmen würden.

Wir können dafür sorgen, dass die Welt besser wird (nennt mich einen Gutmenschen, ich betrachte es als Kompliment), dafür braucht es keinen Impfstoff, sondern Menschlichkeit und Mut. Aber die schnelle Entwicklung eines Impfstoffes hat bewiesen, was geht, wenn wir es nur wollen.

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