Leitartikel

Der vorprogrammierte Crash

Aus ff 02 vom Donnerstag, den 14. Januar 2021

Leitartikel Verena Pliger
„Während all unsere Nachbarländer die Handbremse gezogen haben, haben wir Vollgas gegeben.“ © FF Media
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Seit Monaten befindet sich Südtirol im Stop-and-go-Modus. Am Steuer sitzt die Landesregierung, die zuerst an die Eigenverantwortung appelliert hat und nun, wo die Zahlen steigen, den Ball an die Bevölkerung zurückspielt.

Jeder kennt dieses Gefühl der Ohnmacht, wenn auf der Straße nichts mehr weitergeht. Da hilft kein Drängeln, Hupen und Schimpfen. Es gilt: Motor an, einige Meter weiterfahren, dann wieder Motor aus. In der Verkehrssprache nennt man dieses Phänomen Stop-and-go. Es ist nervig und auch gefährlich. Denn drückt man beim Anfahren zu kräftig aufs Gaspedal, kann es schnell krachen. Und dann stellt sich die Frage, wer Schuld hat an Dellen, Beulen und Kratzern.

Seit Monaten nun sind wir im Stop-and-go-Modus. Am Steuer bei der Pandemiebekämpfung sitzt die Landesregierung. Auf der Rückbank harren Lobbys und Bürger aus, die – wie quengelnde Kinder – endlich ans Ziel kommen wollen.

Wie im Straßenverkehr muss auch die Landesregierung Ruhe bewahren, sie darf sich in ihren Entscheidungen nicht treiben lassen. Lange Zeit hat sie trotz des enormen Drucks Nervenstärke bewiesen. Nun werden Entscheidungen getroffen, die nicht mehr nachvollziehbar sind. Als all unsere Nachbarländer die Handbremse gezogen haben, haben wir Vollgas gegeben.

Zu stark aufs Gaspedal wurde bereits vor Weihnachten gedrückt – in einer Zeit, als der vom Robert-Koch-Institut kritische Stellenwert von 50 Infektionen je 100.000 Einwohner pro Woche um das Siebenfache überschritten wurde. Nichtsdestotrotz hat sich der Landeshauptmann einige Tage vor Heiligabend auf Rai Südtirol gegen eine Obergrenze bei Familienfeiern ausgesprochen. Anders als im Rest Italiens wollte er niemandem verbieten, seine Lieben in einer anderen Gemeinde zu sehen.

Stattdessen appellierte er im Interview an unser Verantwortungsbewusstsein. Und wir haben die Eigenverantwortung genutzt: Quer durchs ganze Land fanden Familienbesuche statt. Wie wir wissen, bei Weitem nicht immer mit Maske. In Kombination mit den vielen privaten Partys in Kellern, Garagen und Almhütten rund um Silvester, die kaum geahndet wurden, mixten wir uns einen gefährlichen Cocktail. Bereits in den ersten Januar-tagen schnellten die Infektionszahlen nach oben, und die Lage in den Krankenhäusern spitzt sich wieder zu.

Doch anstatt anzuhalten und den Motor abzuschalten, gab man erst richtig Gas. Mit 7. Januar hieß es: Anschnallen, los geht’s! Bars, Restaurants, Hütten und der Einzelhandel wurden geöffnet, die Oberschüler in den Präsenzunterricht zurückgeholt. Und natürlich strömte alles raus. Bereits am Freitagabend gab es Stau vor dem Einkaufszentrum Twenty, am Wochenende dann volle Hütten.

Und nun stehen wir, die wir uns gerne als Musterschüler sehen, im italienweiten Vergleich richtig schlecht da. Wir sind nicht nur trauriges Schlusslicht bei der Corona-Impfung, sondern haben auch noch einen RT-Wert von 1,36 erreicht. Mit dieser Reproduktionszahl müssten wir sofort zur roten Zone erklärt werden. Doch vorerst gibt es keinen neuen Lockdown.

Sowohl der Landeshauptmann als auch Gesundheitslandesrat Thomas Widmann haben mittlerweile die privaten Feiern als „Infektionstreiber“ genannt. Damit stehlen sie sich aus der Verantwortung. Dabei zeigt sich seit Monaten: Der bloße Appell an die Eigenverantwortung funktioniert nicht. Wer in Pandemiezeiten die Leine zu lang lässt, muss damit rechnen, dass der Bewegungsfreiraum ausgenutzt wird – von vielen verantwortungsbewusst, von anderen grob fahrlässig.

Deshalb ist es höchst an der Zeit, den Motor abzustellen und aus dem Auto zu steigen. Nach Luft zu schnappen und Aufklärungsarbeit zu leisten. Den quengelnden Mitfahrenden sachlich, klar und deutlich zu vermitteln, dass sich der Stau erst dann auflösen wird, sobald es beim Thema Impfen kein Zaudern mehr gibt. Erst dann können wir uns von der Pandemie befreien, erst dann kommen wir ans Ziel.

Leserkommentare

2 Kommentare
Alois
16. Januar 2021, 19:49

Es gibt eine aktuelle Studie weltweit renommierter Uniprofessoren, welche zum Schluss kommt, dass die drastischen Lockdown-Maßnahmen in Ländern, wo diese stattfanden, keine verbesserte Situation herbeigeführt haben (im Vergleich zu Ländern ohne Lockdown). Ob so eine Studie für unsere Politik interessant ist? Wohl nicht, weil sie alles bisher Unternommene in Frage stellt. Ob sie für die ff interessant sein könnte? Um mal die Perspektive zu wechseln... Nur mal unvoreingenommen hineinschnuppern. Bräuchte halt Mut und Flexibilität im Kopf...

Studie: Eran Bendavid, Christopher Oh, Jay Bhattacharya, John P A Ioannidis. Assessing Mandatory Stay-at-Home and Business Closure Effects on the Spread of COVID-19. Eur J Clin Invest. 2021 Jan 5;e13484. doi: 10.1111/eci.13484.
https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/33400268/ antworten

Alois
16. Januar 2021, 19:56

Übrigens, wo hat Südtirol letzthin "Vollgas" gegeben? Seit Monaten alle Kinos, Theater, kulturelle Veranstaltungen und sportliche Betätigungen in Hallen (mit wenigen Ausnahmen) verboten, Skigebiete geschlossen, Hotelerie zu, Handel teilweise, Gäste aus anderen Regionen bzw. Ausland keine vorhanden usw.
Und das war Vollgas?? Vollgas hat vielleicht die ff gegeben - in ziemlich eine Richtung... antworten

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