Leitartikel

Eine Justiz, die zu Recht verhilft

Aus ff 32 vom Donnerstag, den 12. August 2021

Leitartikel 32/21
Leitartikel 32/21 © FF Media
 

Die Justizreform der Regierung Draghi ist ein erster Schritt. Dabei darf es nicht bleiben. Ohne funktionierende Justiz gibt es keine funktionierende Demokratie.

Carla Scheidle hat ihr Berufsleben mit dem Recht verbracht, als Studentin, als Anwältin und 35 Jahre lang als Richterin. Sie weiß also, wie es um die italienische Justiz steht. Sie sagt, die Dinge hätten sich im Laufe der Jahre immer mehr verkompliziert, inhaltlich wie formal. „Das“, sagt sie im Sommergespräch mit ff (ab - Seite 22) „hat mir in meiner beruflichen Laufbahn am meisten zu schaffen gemacht.“

Wir wissen aus eigener (leidvoller) Erfahrung, aus den Verfahren, die gegen dieses Magazin angestrengt wurden, wie lange es dauern kann, bis Recht gesprochen wird. Mitunter so lange, dass der beklagte Redakteur und der immer mitbeklagte Direktor der ff schon nicht mehr auf ihren Sesseln saßen, als ein Richter eine endgültige Entscheidung traf. Ein Verfahren konnte, nicht gelogen, über zehn Jahre dauern. Das halten nur Verlagshäuser durch, die über viel Geld verfügen.

Lange Verfahren bedeuten, dass das Recht nicht für alle gleich ist. Wer mehr Geld hat, kommt eher zu seinem Recht oder kann eher eine Verurteilung abwehren. Unter anderem durch eine Verjährung. Das kam zum Beispiel dem früheren Regierungschef Silvio Berlusconi sehr zugute. Den 5 Stelle war die Abschaffung der Verjährungsfristen deshalb ein großes Anliegen. Jetzt kommen sie mit der Justizreform der Regierung Draghi in aufgeweichter Form wieder zurück.

Die langsame Justiz ist neben der Korruption oder der Bürokratie eines der Probleme Italiens. Bisher wagte es keine Regierung, die Justiz von Grund auf zu reformieren. Zu groß war der Widerstand der Parteien und der Justiz selbst, zu unterschiedlich die Auffassungen über die Inhalte. Jetzt hat die Regierung Draghi und Justizministerin Marta Cartabia dieses (schier unmögliche) Vorhaben in Angriff genommen. Auf Druck der EU, die die Gelder aus dem Recovery-Fund unter anderem mit einer Beschleunigung der Gerichtsverfahren verbunden hat.
„Die Reform“, sagt Carla Scheidle, „wird jedoch nicht so schnell gehen.“ Das Haus Justiz muss von Grund auf saniert werden. In Italien gibt es gut 111.000 Rechtsakte (Gesetze, Gesetzesdekrete, Dekrete, Verordnungen), die noch in Kraft sind. Darunter königliche Dekrete, die vor 1932 erlassen wurden, oder Dekrete des „Duce“, etwa über die Züchtung und den Verkauf von Seidenraupen. Dazu kommen noch die vielen Gesetze oder Dekrete der Regionen oder des Landes Südtirol. Die oft so formuliert sind, man hat es in der Pandemie erlebt, dass Leute ohne juridische Grundkenntnisse einen Rechtsbeistand brauchen, um damit zurechtzukommen.

Strafrecht und Zivilrecht sind in Italien ein Dschungel, zumal neue Gesetze nicht organisch wie in Deutschland in das Strafgesetz- oder Zivilgesetzbuch eingepasst werden, zumal unzählige formale Vorschriften beachtet werden müssen. Staatsanwälte, Anwälte, Richter müssen sich erst eine Schneise durch diesen Dschungel schlagen. Jede Justizreform, die diesen Dschungel nicht lichtet, wird vermutlich scheitern. Einerseits. Andererseits gilt es auch zu verhindern, dass Straftäter ungeschoren davonkommen, weil Verfahren verjähren. Das kann nicht der Sinn der Reform sein, dass Kriminelle lachend das Gericht verlassen.

Die Justizreform der Regierung Draghi wird uns als epochal verkauft – begleitet von der schmeichelnden Begleitmusik der Medien (Corriere della Sera, La Repubblica), die bei den vorigen Regierungen jeden Stein umgedreht haben. Was jetzt passiert, ist ein zaghafter Anfang. Denn was passiert eigentlich mit dem Zivilrecht – dessen Langsamkeit behindert Unternehmen und verhindert Investitionen. Wenn Prozeduren nicht vereinfacht werden, wird niemand in einer angemessenen Zeit Recht bekommen.

Demokratie braucht eine funktionierende Justiz, sonst verkommt sie zu Willkür. Die Menschen müssen das Gefühl haben, zu ihrem Recht zu kommen, sonst wird das Misstrauen in die Institutionen nur noch größer, als es jetzt schon ist.

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