Leitartikel

Die Grenzen der Arbeit

Aus ff 26 vom Donnerstag, den 30. Juni 2022

 

Südtirol sucht verzweifelt Arbeitskräfte. Das liegt auch an der Kurzsichtigkeit von Wirtschaft und Politik. Und daran, dass der Fortschritt Grenzen hat. von Georg Mair, Vize-Chefredakteur

Einem Land, das verzweifelt nach Arbeitskräften sucht, muss es gut gehen. Tourismus, produzierendes Gewerbe, Schule, Gesundheitswesen klagen in Südtirol über den Mangel an Fachkräften. Alle suchen, wenige finden. Bars schließen früher, am Sonntag kann man nicht mehr ins Restaurant gehen, Operationen werden verschoben, der Handwerker kommt erst in ein paar Monaten. So beschreibt es Andrej Werth in der Titelgeschichte in diesem Heft.

Wer gut ausgebildet und flexibel ist oder neue Erfahrungen machen will, kann leicht den Arbeitgeber wechseln. Oder gar um mehr Lohn oder bessere Arbeitsbedingungen feilschen –
junge Leute etwa wollen oft mehr freie Zeit, um Berufliches und Privates in Balance zu halten. Die Menschen haben also Arbeit und Einkommen. Auch wenn jetzt die Inflation (in der Landeshauptstadt Bozen schon bei 9,1 Prozent) Einkommen und Ersparnisse auffrisst.

Doch der Boom – noch nie waren in Südtirol so viele Menschen beschäftigt – verdeckt vieles. Denn es gibt gute Gründe, warum Arbeitskräfte fehlen, Menschen in bestimmten Branchen nicht so gerne arbeiten. Arbeitgeber und Politik waren in den vergangenen Jahren oft wenig weitsichtig, wenn es um Ausbildung, Entlohnung und Arbeitsbedingungen der abhängig Beschäftigten ging.

In vielen Branchen in Südtirol sind die Löhne niedrig, in der Pflege, im Handel, bei den Putzdiensten sowieso. Die Lebenshaltungskosten sind aber um 20 Prozent höher als im restlichen Italien. Bei Lohnverhandlungen gibt es wenig Bewegung, bei Territorial- oder Betriebsabkommen bocken Branchen oder Betriebe. Oft rechnen sie auch damit, dass kleine Einkommen von den Sozialmaßnahmen des Landes ergänzt werden. Auch jetzt mit der hohen Inflation regt sich bei Lohnverhandlungen wenig.

Mehr Geld ist nicht alles, aber der erste Hebel, um Arbeitskräfte anzuziehen. Auch von auswärts. Die Rechnung ist einfach: In Südtirol finde ich Arbeit, aber hier ist alles teurer, Wohnen kostet das Doppelte und ich entreiße die Familie dem gewohnten Umfeld. Es braucht also leistbare Wohnungen – das liegt auch in der Verantwortung der Arbeitgeber. Sie müssen mehr von ihren Gewinnen abgeben, wenn sie gute Leute wollen.

Wer also Arbeitskräfte (von auswärts) anwerben will, muss dafür sorgen, dass sie ordentlich bezahlt und zu einem angemessenen Preis untergebracht werden. Und sie gut behandeln. Der Tourismus etwa begreift erst langsam, dass viele Überstunden und der hohe Arbeitsrhythmus die Menschen auslaugen. Viele Berufe sind gerade wegen der hohen Belastung nicht attraktiv genug, wie im Gesundheitswesen oder im Pflegebereich. Die Menschen, die dort arbeiten, haben in der Pandemie ihre Arbeitswilligkeit demonstriert. Belohnt wurden sie nicht. Viele arbeiten im Ausland. Dort verdienen sie mehr, gibt es keine Impfpflicht.

Dass ein Mangel an Fachkräften auf uns zukommt, weiß das Land seit gut zehn Jahren. Was ist seitdem passiert? Nicht viel. Die Arbeitsmarktpolitik: träge. Die Ausbildungsplätze an der Universität Bozen (siehe Bildungswissenschaften): zu wenige. Lohnerhöhungen: mager (gerade auch im öffentlichen Dienst, der für Universitätsabgängerinnen unattraktiv ist wie nie zuvor).

Der Mangel an Fachkräften ist auch ein demografisches Problem. Wir sind zu wenige. Mehr Geburten also? Lassen sich nicht verordnen. Aber Kinder kriegen fällt leichter, wenn sich Familie und Beruf besser vereinbaren lassen, wenn auch Männer ihre Verantwortung für Haushalt und Kindererziehung wahrnehmen.

Aber vielleicht muss man die Lage auch grundsätzlicher sehen. Das Modell des permanenten Fortschritts überdenken, das unsere Wirtschaft antreibt. Dauerndes Wachstum ist gleich mehr Arbeitskräfte. Vielleicht ist es Zeit einzusehen, dass wir an Grenzen gestoßen sind.

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