Leitartikel

Volksparteien ohne Volk

Aus ff 44 vom Donnerstag, den 03. November 2022

Ausgerechnet Giorgia Meloni könnte die Volksparteien aufrütteln – auf dass sie wieder das werden, was sie einst waren: Parteien des Volkes.

Faschisten! Dummes, rückwärtsgewandtes Pack!

Es hat vor der Wahl nicht funktioniert, es wird nach der Wahl nicht funktionieren: Die aus den Truhen der Geschichte hervorgeholte Keule mag nützlich sein, um das moralische Gewissen zu beruhigen und die Wachsamkeit zu stärken. Keine Frage: Was war – das Abscheuliche aus der Zeit der Nazis und Faschisten –, darf nicht wieder sein. Nie wieder.

In den linksliberalen Wohnzimmern ist es schick, Meloni scheiße zu finden und der neuen Regierungschefin alles erdenklich Böse an den Kopf zu werfen. Mag sein, dass sie das auch verdient angesichts ihrer Vita, hoch zu Ross der nationalistischen und chauvinistischen Scharfmacher.

Ich möchte aber nicht, dass Hau-die-Meloni dazu dient, von den eigenen Fehlern und Schwächen abzulenken. Denn eine Erkenntnis sollte inzwischen außer Diskussion stehen: Die Rechte hat ihren Triumph weder einem tollen Programm noch klugen Politikern zu verdanken, sondern dem Elend der Linken und der sogenannten Volksparteien. Wäre der Partito Democratico das, was sein Name verspricht, wäre diese Partei also das, was einst aus den Trümmern der beiden Volksparteien Democrazia Cristiana und Partito Comunista hätte entstehen sollen, dann hätten Meloni & Co. nicht die Spur einer Chance.

In diesen Tagen habe ich mich an das Buch „Feindliche Übernahme“ erinnert. Sie wissen schon: Thilo Sarrazin. Oh weh, oh weh! Mit manchen Thesen, die dieser linke Häretiker vorbringt, bin ich nicht einverstanden. Aber wenn ich das Buch heute, vier Jahre nach seinem Erscheinen, wieder lese, muss ich einräumen: Die Themen, die Sarrazin aufs Tapet bringt, sind wichtig. Es sind genau jene Themen, die – wie zum Beispiel die Migration oder das Grundeinkommen – unbequem sein mögen, die aber offen und ohne Scheuklappen diskutiert werden müssen. Genau das zu tun, weigern sich aber die Volksparteien. Sarrazin wurde sogar von seiner Partei, der SPD, hinausgeworfen. Die Wach-ha-ben-den des linken Mainstreams können inzwischen strenger sein als ein Pater dazumal.

Volksparteien definieren sich dadurch, dass sie „das Volk vertreten“ – zumindest ein möglichst breites Spektrum. Die SVP bezeichnet sich deswegen als Sammelpartei: Seit ihrer Gründung 1945 hat sie alles „gesammelt“, vom linken Intellektuellen bis zum rechten Bauer (sorry für dieses Klischee). Sammelpartei zu sein bedeutet, politisch Andersdenkende nicht auszugrenzen, sondern einzubinden.

Der Niedergang der Volksparteien hat begonnen, als sie gar nicht mehr versuchte, das sogenannte einfache Volk anzusprechen, ernst zu nehmen. Nach dem Motto: Wer nicht so denkt und spricht wie wir, ist ein Faschist und Rassist. Und jetzt: Sind die Italiener plötzlich mehrheitlich lauter Faschisten? Echt jetzt?

Wie gesagt, ich bin kein Fan von Thilo Sarrazin. Aber an ihm kann man lernen, warum sich so viele Menschen von den Volksparteien, denen sie immer vertraut haben, verraten fühlen. Ob es passt oder nicht: Wer einen Sarrazin ausschließt, schließt die Mehrheit der Menschen aus.

Meloni erinnert daran, auch mit jenen zu reden, die wir ins rechte Eck gedrängt haben. Ausgerechnet sie könnte die Volksparteien aufrütteln, wieder das zu werden, was sie einst waren.

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