Leitartikel

Die soziale Temperatur

Aus ff 04 vom Donnerstag, den 26. Januar 2023

Was ist wichtiger: Schutz vor der Kälte oder Badminton-Training? Die Aufregung über Schlafplätze in einer Turnhalle sagt viel über unsere Gesellschaft.

Auf der Straße (er)frieren die Menschen, aber wir müssen Badminton trainieren. Das ist mindestens genauso wichtig. Was erlaubt sich Landesrat Arnold Schuler, zuständig für Zivilschutz, eine Turnhalle zu belegen, in denen Obdachlose Schutz vor der Kälte finden?

Dabei ist erst vor Kurzem ein Mensch in Bozen auf der Straße erfroren. Das Entsetzen war groß. Das Land schob der Gemeinde Bozen die Verantwortung zu, die Gemeinde dem Land. Der Bozner Bürgermeister Renzo Caramaschi, der im vergangenen Jahr 199 provisorische Unterkünfte entlang der -Talfer oder des Eisack hat räumen lassen, liegt im Dauerstreit mit -Sozial-Landesrätin Waltraud Deeg.

Gerade in diesen Tagen brauchen die Leute, die auf der Straße leben, dringend einen Schlafplatz, um nicht schwere gesundheitliche Schäden oder gar das Leben zu riskieren. Kalt, auch sozial, ist es ja schon, aber es wird kälter.

Landesrat Schuler hat Obdachlosen ohne viel Formalitäten geholfen. Hätte er nichts getan, hätte man ihm bestimmt vorgeworfen, nichts getan zu haben, jetzt wird ihm vorgeworfen, dass er gehandelt hat. Hätte er es vorher angekündigt, hätten die Betroffenen, die Wirtschaftsfachoberschule in Bozen und die Sportvereine, die in der Halle trainieren, alles getan, um die Entscheidung wieder rückgängig zu machen.

Das nächste Mal können ja Bürgermeister Renzo -Caramaschi oder Vizebürgermeister Luis Walcher, der in den Dolomiten in dieser Sache vor sich hin maulen darf, schnell eine Alternative bringen. Aber das tun sie ja nicht, partout nicht, weil das müssen ja das Land oder die anderen Gemeinden. Auf den Körpern der Obdachlosen wird ein Kompetenzstreit ausgetragen.

Wollen wir wirklich ernsthaft darüber reden, was wichtiger ist als ein warmer Platz für Schutzbedürftige: Der Ausfall des Turnunterrichts für ein paar Schülerinnen und Schüler für ein paar Tage, die Form der Athleten des SSV Bozen, das Befinden von WFO-Direktor Troger (Religionslehrer), die „Gefahr“, dass Schülerinnen und Schüler der WFO auf Obdachlose treffen könnten, wie etwa Yuri Andriolo, Bozner Stadtrat für Soziales, meint. Er gehört dem Partito Democratico an, der Partei, die auch deswegen immer mehr in der Gunst der Wählerinnen und Wähler absackt, weil sie den sozialen Kompass verloren hat. In Bozen werden Obdachlose weit vom Zentrum untergebracht, sonst könnten ja die Besucher des Weihnachtsmarkts auf arme Leute treffen. Im Übrigen verfügt die WFO in Bozen über drei Turnhallen. Die Halle mit den Schlafplätzen befindet sich am Außensitz und hat einen getrennten Eingang.

Man könnte jetzt sagen, so weit ist es gekommen, weil das Land und die Gemeinde(n) ihre Arbeit nicht gemacht haben, weil sie nicht genug Schlafplätze vorbereitet haben, weil sie nur das Notwendigste tun, um Migranten abzuschrecken – Bozen und Südtirol sollen nicht zu einladend werden. Das ist die Politik seit Jahren.

Man könnte auch sagen, im Sinne eines humanen, christlichen, solidarischen Umgangs mit Menschen dürfte es keine so große Erregung hervorrufen, wenn ein Landesrat eine Entscheidung im Sinne der Menschen trifft, die nichts haben, nicht einmal ein Bad, um sich zu waschen, oder eine Toilette, um aufs Klo zu gehen, wenn man ihnen ein Bett zum Schlafen gibt, geschützt von vier Wänden.

Die Aufregung war groß, die Verweildauer der Obdachlosen in der Turnhalle kurz. Am Montag dieser Woche sind die Schutzbedürftigen wieder ausgezogen. Aber die Zeit war lang genug für den Versuch, daraus politisches Kapital zu schlagen.

Wenn Menschenleben gefährdet sind, ist jede Diskussion überflüssig.

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