Leitartikel

Wann ist ein Mann ein Mann?

Aus ff 09 vom Donnerstag, den 02. März 2023

Wer Gewalt gegen Frauen eindämmen will, muss Männlichkeit von Grund auf neu denken.

Jungen weinen nicht. Echte Männer werden nicht krank. Sind stark. Sie räumen keine Schwächen ein. „Das ist wenigstens ein richtiger Mann!“ – „Sei ein Mann!“ – „Sei kein Mädchen!“ Unsere Alltagssprache ist voll von solchen Zuweisungen. Sie sind nicht so harmlos, wie man meinen könnte. Denn von diesen Zuweisungen führt häufig ein Weg zur Gewalt gegen Frauen, und der endet oft tödlich.

Zehn Frauen wurden seit Beginn des Jahres in Italien ermordet. Die Täter sind Ehemänner, Freunde oder Ex-Partner. -Nummer zehn ist eine Südtirolerin – sie wurde vor Kurzem mutmaßlich von ihrem Partner zu Tode geprügelt. Noch vor ihrem Tod hatte sie Anzeige gegen ihn wegen Misshandlung und Körperverletzung erstattet.

Das Ausmaß an Gewalt ist schockierend. Es will nicht zu dem Bild passen, das unsere Gesellschaft von sich selbst hat: Frauen und Männer, die gleichberechtigt zusammenleben. Aber die Zahlen sprechen eine andere Sprache, der gewaltsame Tod so vieler Frauen ist der Beweis dafür, dass zwischen den Geschlechtern etwas Grundsätzliches nicht stimmt.

Dabei ist schon lange klar, dass man die alten Rollenbilder über den Haufen werfen muss, wenn man die Gewalt gegen Frauen eindämmen will.

Jahrhundertelang galten Männer als das starke Geschlecht, dominierten als „Herren der Schöpfung“ in Beruf, Politik und Familie. All das bedeutet aber auch: Männer gehen seltener zum Arzt. Sie sorgen sich seltener um ihre Gesundheit. Es ist schwer für sie, über Gefühle zu reden.

Diese Rollenbilder sind kein Zufallsprodukt. Sie werden durch Filme, Raptexte oder Zeitschriften immer wieder aufgefrischt. Männer als Täter oder Retter, aggressiv und stark. Frauen als Opfer, freundlich, defensiv und schwach. Diese Stereotype werden schon früh erlernt.

Männlichkeit, so wie wir sie in unserer patriarchalen Gesellschaft wahrnehmen, richtet Schaden an. Bei den Frauen. Und bei den Männern. Männer sollen hohe Erwartungen erfüllen, rational statt emotional sein. Rollen zwingen immer dazu, einen Teil von sich zu verleugnen, egal welchem Geschlecht man angehört. Also, lasst uns die tradierten Männlichkeitsvorstellungen über Bord werfen und Männlichkeit von Grund auf neu denken.

Ansetzen sollten wir bei den Kleinen: Jungs und junge Männer sollten lernen, wie sie ihre Emotionen ohne Gewalt verarbeiten können. Alle Kinder – Mädchen wie Jungen – müssen die Chance bekommen, sich frei von Geschlechterstereotypen zu entwickeln. Und die Wahlmöglichkeit haben, ob sie lieber raufen wollen oder sich mehr für Puppen interessieren.

Um gesellschaftliche Missstände abzubauen, braucht es aber auch Veränderungen auf kollektiver Ebene. Mehr Frauen in Führungspositionen würden die Gesellschaft verändern. Dadurch würden auch Männer andere Vorbilder bekommen, andere Lebensstile sichtbarer werden. Damit wir in einer vollständig gleichberechtigten Welt leben können, müssen Männer auch reflektieren, in welcher Form sie bevorzugt werden, etwa durch Gesetze, Privilegien. Sie müssen männerbündische Strukturen entlarven – und sie dann verändern. Sie müssen selbst die Rollenbilder hinterfragen und alles was damit zusammenhängt, etwa Kinderbetreuung und Pflegearbeit. Die kritische Beschäftigung mit den eigenen Gefühlen kann dafür ein Anstoß sein.

Ja, es stimmt: Allmählich, sehr langsam, verändern sich die Rollenbilder von Mann und Frau. Junge Väter nehmen öfter Elternzeit, Frauen schaffen es in Führungspositionen. Trotzdem, es gibt noch viel zu tun. Um eine diskriminierungs- und möglichst gewaltfreie Gesellschaft zu schaffen, müssen sich wirklich alle verantwortlich fühlen.

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