Leitartikel

Vor dem Kollaps

Aus ff 28 vom Donnerstag, den 13. Juli 2023

Das Gesundheitswesen ist drauf und dran, kaputtzugehen. Die ­Verantwortlichen aber stellen sich blind und taub – das ist skandalös.

Primare gehen frühzeitig in den Ruhestand. Fachärzte steigen aus dem öffentlich finanzierten System aus und flüchten in die Privatmedizin. 52 Primariate müssen neu ausgeschrieben werden, weil der Verfassungsgerichtshof das entsprechende Landesgesetz für verfassungswidrig erklärt hat. Die Zusammensetzung der Prüfungskommissionen sei nicht rechtmäßig gewesen. Es wird Rekurse geben und Schadenersatzforderungen. Ein regelrechter Tsunami bricht zurzeit über das Südtiroler Gesundheitswesen herein. Es implodiert.

Und was sagen dazu die Verantwortlichen? Zum Beispiel das: „Es liegt nicht an den Arbeitsbedingungen im Krankenhaus“, wenn ein Primar wie jüngst etwa jener der Urologie am Krankenhaus Meran gekündigt hat, um in die Privatmedizin abzuwandern.

Das sagte niemand geringerer als der Direktor des Gesundheitsressorts gegenüber Rai Südtirol. Handlungsbedarf sehe er keinen. Da muss man schon mal schlucken und man fragt sich, ob man sich verhört hat. Hat man aber nicht. Der Mann sieht das Problem nicht. Das ist absurd. Die Liste der Probleme ist lang, allen voran: endlose Bürokratie, Digitaldebakel, zu wenig Zeit für die Patienten, zu wenig Personal. Südtirol hat die Möglichkeiten und Ressourcen, dass solche Zustände erst gar nicht entstehen müssen. Es ist unverzeihlich, dass das nicht genutzt wird.

„Es liegt nicht an den Arbeitsbedingungen“ – diesen Satz muss man sich noch einmal auf der Zunge zergehen lassen. Dann wird man verstehen, dass die Stimmung in Südtirols Krankenhäusern schlecht ist, um nicht zu sagen: explosiv.

Viele Ärztinnen und Pflegekräfte sind frustriert, viele sind zermürbt und haben resigniert. Laut und in aller Öffentlichkeit sagt das kaum jemand. Diese Zurückhaltung, nennen wir es so, hat Tradition im Südtiroler Gesundheitswesen.

Um nicht falsch verstanden zu werden: Die Gesundheitsversorgung in unserem Land ist nicht schlecht. Viele Mitarbeitende machen wunderbare Arbeit. Trotz aller Probleme haben in Südtirol viele Menschen nach wie vor Vertrauen in die Qualität der medizinischen Versorgung.

Und dennoch merken die Patienten nahezu jeden Tag, dass es an allen Ecken und Enden knirscht und kracht. Auf bestimmte Facharztvisiten wartet man ewig, im ganzen Land gibt es einen akuten Hausärztemangel, kurzum: Es fehlt überall an qualifiziertem Personal. Kein Wunder, dass immer mehr Mitarbeitende, aber auch Patienten in die Privatmedizin flüchten. Das ist nicht nur für finanziell schwache Patienten ein Problem, sondern auch für das Gesundheitssystem selbst. Eigentlich müssten die Verantwortlichen alles dafür tun, jede einzelne Person mit ihrem fachlichen Wissen und ihren Erfahrungen zu halten. Koste es was es wolle. Jeder Abgang einer Ärztin oder Pflegekraft schadet dem Gesundheitswesen, und damit den Patientinnen.

Die Zeit läuft davon. Aber die Verantwortlichen tun so, als wäre alles in Ordnung. Wenn nichts geschieht, wird es schnell schlimmer werden. Denn die Fachkräfte von morgen fehlen schon heute.

Nach dem Urteil des Verfassungsgerichts wollen viele der 52 Primare Schadensersatz fordern, andere werden sich nicht erneut dem Wettbewerb stellen – aus Frust und Enttäuschung. Das verschärft die Lage weiter. Schon in Vergangenheit haben sich häufig kaum Bewerber für ausgeschriebene Stellen gefunden. Sprunghaft vergrößern wird sich die Zahl der Interessierten jetzt sicher nicht. Warum soll jemand auch für ein System arbeiten, das gerade kaputtgeht, während die Verantwortlichen sich blind stellen?

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