Leitartikel

Wer zurückbleibt, wählt rechts

Aus ff 31 vom Donnerstag, den 03. August 2023

 

In Italien Meloni, in Deutschland AFD, in Österreich Kickl & Co. Die Abkehr von den Linksparteien hat einen handfesten und höchst peinlichen Grund.

Die Gleichung hat zwar noch nicht Eingang in die Lehrbücher gefunden, und doch ist sie offensichtlich: Je wohlhabender und gebildeter die Menschen sind, je privilegierter ihr Lebensumfeld und je höher ihr Einkommen, desto eher wählen sie grün beziehungsweise links.

Proletarier aller Länder: Lang ist’s her. Die Zeiten, als die Masse der Arbeiter und Angestellten sich mit den roten Parteien identifizierten, als sie gewerkschaftlich organisiert waren und ihre Rechte auf der Straße und mit Streiks erkämpften, aus und vorbei. Der Niedergang der sogenannten Arbeitnehmer in der SVP ist sinnbildlich für die Krise der Linksparteien in ganz Europa.

Je niedriger ihr Einkommen und je prekärer ihre Lebensumstände, desto eher wählen die Menschen heute rechts. Meloni, Salvini & Co stellen derzeit die Mehrheit in Italien. Die Alternative für Deutschlands (AFD) ist noch nicht so weit. Wer die jüngsten Umfragen gesehen hat, reibt sich aber die Augen: Die Ultrarechte ist drauf und dran, zur stärksten Partei aufzurücken. In Ländern wie Polen und Ungarn ist dies schon längst der Fall. Prognosen zufolge könnte es bei der EU-Wahl im kommenden Jahr ein böses Erwachen geben.

Nach dem Zweiten Weltkrieg galt in den westlichen Gesellschaften eine goldene Regel: Wer arbeitet und sich anstrengt, dem gelingt es, in der sozialen Hierarchie nach oben zu steigen. Aus Arbeiterkindern wurden Lehrkräfte, Ärztinnen, Handwerker, die sich ein Eigenheim leisten konnten. Sparen hatte sich gelohnt. Die Wohlstandsgesellschaft fußte nicht bloß auf individueller Tüchtigkeit: Es waren die Rahmenbedingungen, die jenem Einzelnen den sozialen Aufstieg ermöglichten. Chancengerechtigkeit und Fairness sind das A und O der Leistungsgesellschaft. Und die Volksparteien – egal ob mit christlich-sozialer oder sozialistischer Färbung – waren die Garanten dafür, dass in unseren Gesellschaften jeder und jede eine Chance hat.

Irgendwann landete diese Art von Sozialpartnerschaft auf der Müllhalde. Ich will nicht sagen, dass Absicht dahintersteckt. Aber Fakt ist: Volks- und Linksparteien haben aufgehört, die Sprache jener zu sprechen, mit denen sie groß geworden waren. Zum Teil mögen sie auch eine kluge Politik machen. Aber es ist eine Politik, die zur Folge hat, dass immer mehr Menschen zurückbleiben. Früher gelang es, von der Unterschicht in den Mittelstand aufzusteigen. Heute kämpfen viele Menschen verzweifelt darum, nicht vom Mittelstand in die Unterschicht abzurutschen.

Peinlich: Die einstigen Parteien der Arbeiter und Angestellten vertreten nicht mehr die Arbeiter und Angestellten, sondern die Schicht der Privilegierten.

Gesellschaftliche Veränderungen gehen langsam vor sich, meist unmerklich. Aber plötzlich sind sie offensichtlich – und krasser, als man es sich noch vor wenigen Jahren hätte vorstellen können: Die selben Menschen, die 1980 den PCI oder die CDU gewählt haben, kreuzen heute das Listenzeichen von Meloni an. Die einst roten Städte Mittelitaliens sind heute rabenschwarz.

Jetzt kann man über Meloni und die AFD maulen – in Deutschland wird sogar über ein Verbot dieser Partei nachgedacht –, oder aber ein ehrliches Mea Culpa versuchen: selber schuld, wenn die Kundschaft zur Konkurrenz abwandert.

Dabei sind die Gründe für den Rechtsrutsch offensichtlich. Es sind die Themen, die in Sonntagsreden angesprochen, aber nie angegangen wurden: Steuergerechtigkeit, faire Löhne, Sicherheit, Bürokratie, klare Regeln, die für alle gelten.

Wer das Gefühl hat, in einer Gesellschaft zu leben, in der es gerecht zugeht, wählt nicht Meloni.

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