Leitartikel

Je schlimmer, desto besser

Aus ff 46 vom Donnerstag, den 16. November 2023

Zitat
 

Das Wettrennen um Klicks und Auflagen führt dazu, dass Zeitungen dem nachäffen, was im Netz erfolgreich ist – und sich damit selbst abschaffen.

Nur eine schlechte Nachricht ist eine gute Nachricht. Diese Faustregel gilt, seit es Medien gibt. Als ich das Glück hatte, bei der Tageszeitung Il Mattino erste berufliche Erfahrungen machen zu dürfen, lernte ich: Ja natürlich, wir sind eine seriöse Zeitung. Aber wisse, belehrte mich der Chef vom Dienst, die Leute kaufen die Zeitung, wenn es kracht. Je schlimmer, desto besser.

Ein Unfall mit Blechschaden? Höchstens eine kleine Notiz. Ein Unfall mit einem Toten? Könnte der Aufmacher sein. Ein Unfall mit drei Toten? Titelseite und mindestens zwei Seiten. Je blutiger es zugeht auf Südtirols Straßen, desto besser für die Zeitung. Je mehr Tote, je spektakulärer der Mord, je skandalöser der Skandal, desto höher die Auflage.

Schon diese alte Faustregel war nicht edel, aber sie ist Pippifax gegenüber dem, was heute abgeht in der Medienwelt. Facebook, Twitter, Tiktok, Instagram geben die Themen vor, die traditionellen Medien hecheln hinterher. Internet ist eine fantastische Informationsquelle.

Theoretisch mag dies stimmen, praktisch sieht die Sache anders aus: Internet ist eine fantastische Quatschtüte, die jeder, egal ob Nobelpreisträger oder Vollidiot, Biobauer oder Zuhälter, nach Belieben füllen kann. Ich muss hier nicht anführen, welche Nachrichten die meisten Klicks generieren: nüchterne Infos und Fakten sind es jedenfalls nicht.

Man müsse am Puls der Zeit sein, heißt es. Die echte Welt spiele sich im Netz ab, dort sehe man, was den Leuten unter den Nägeln brennt. Die Folge: Medien bauen Redaktionen ab, „um Ressourcen für das Netz freizumachen“. Dort erreiche man „die Massen“, nicht mit Zeitungen, die eh keiner mehr kauft.
Sogar Wahlen werden heutzutage „im Netz entschieden“: Wer den Dreh von Tiktok raus hat, erreiche die Massen. Man sagt mir, es hätten vor allem jene Parteien verloren, „die in den sozialen Medien nicht präsent sind“. Deshalb müssten sie verstärkt „neue Informationsquellen“ wie Instagram und Tiktok nutzen.

Na klar, auf Pornhub erreiche ich die Massen. Aber ob es sinnvoll ist, auf solchen Kanälen über Chancengleichheit oder Pflegenotstand diskutieren zu wollen? Haben Sie sich schon mal auf Tiktok eingeloggt? Nur zu, es ist allemal interessant zu sehen, was dort abgeht: Man findet alles – außer eine halbwegs -sachliche, zuverlässige Information.

In den neuen Medien, die geschaffen wurden, um Information jeder Art allen und jederzeit zugänglich zu machen, geht es gar nicht um Information. Bestenfalls geht es um Unterhaltung, Ablenkungen, Kuriositäten. Der eigentliche Erfolg der Netzwelt besteht in der Eliminierung des kritischen Denkens. Es punktet, wer schnelle Antworten auf komplexe Fragen gibt: Migranten? Weg damit! „Crossmediale Entwicklung“ nennt man das, wie ich aus einer gewerkschaftlichen Mitteilung aus dem Hause Athesia entnehme. Konkret heißt das: weniger Journalisten, weniger Zeitung, mehr Netz-Rambazamba.

Ich vermute, Zeitungen sind einer Faustregel aufgesessen, die sie in die Sackgasse geführt hat. Je schlimmer, desto besser: Da sind die „sozialen Medien“ konkurrenzlos, weil schneller, krasser und gratis noch dazu. Aber eigentlich sind Zeitungen – und übrigens auch politische Parteien – aus einem ganz anderen Grund und mit einem ganz anderen Zweck entstanden.

Da fiele mir eine Faustregel ein, die heute noch funktionieren müsste: Schuster bleib bei deinen Leisten.

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