nach Wahlen gibt es ein Set an Standardsätzen, das Politikerinnen und Politiker gerne benutzen. Einer davon lautet: „Die gesunkene Wahlbeteiligung ...
Leitartikel
Der Unfall Leifers
Aus ff 24 vom Donnerstag, den 13. Juni 2024
In Leifers ist jetzt einer von der SVP Bürgermeister. Ist das eine Chance für die Überwindung von Grenzen – oder eine Gefahr für das System?
Die größte Überraschung des Wahlsonntags ist die Wahl von Giovanni Seppi zum Bürgermeister von Leifers. In Leifers gehören etwa 71 Prozent der Bevölkerung der italienischen Sprachgruppe an. Sie haben einen Deutschen von der SVP, der einen italienischen Namen trägt, zum Bürgermeister gewählt.
Das ist für die italienische Rechte, für Fratelli d’Italia und die Lega, eine schwere Niederlage. Sie sind jetzt schon dabei, die Mauer zwischen den Sprachgruppen wieder aufzurichten, die einer aus Versehen umgeworfen hat. Und die die Lebensgrundlage für die Parteien in Südtirol bildet, die deutschen wie die italienischen – mit Ausnahme der Grünen vielleicht.
Die Wahl von Giovanni Seppi erzählt vieles. Sie erzählt davon, wie eine Person, die glaubwürdig ist (und weich wie ein Ball aus Schaumgummi), Ideologie- und Sprachgrenzen überwinden kann. Ausgerechnet ein Kandidat der SVP führt vor, wie das geht – das müsste der Partei, die sich noch immer als monoethnisch begreift, eine Lehre sein. Viele Menschen in Südtirol, mehr als man vielleicht denkt, sind offensichtlich bereit, bei Wahlen Grenzen zu überwinden.
Giovanni Seppi hat das System aus dem Gleichgewicht gebracht. Das provoziert Reaktionen. Eine italienische Bastion ist gefallen. Leifers, so sagen die Rechten jetzt, gehört uns. Jetzt sind wir auch hier nur mehr Stellvertreter, so wie fast überall.
Leifers ist eine Kränkung für die Italiener, das Wahlergebnis hat das System aus dem Gleichgewicht gebracht – geschuldet auch dem dürftigen personellen Angebot der italienischen Parteien. Und dem Umstand, dass die Italiener nicht mehr zur Wahl gehen, die Politikverdrossenheit ist in der italienischen Sprachgruppe besonders groß. Die Leute glauben ihren Vertretern nicht mehr. Südtirol ist ohnehin kein Vorbild mehr: An den Wahlen zum EU-Parlament nahmen weniger als 50 Prozent der Wahlberechtigten teil.
Das ist einmalig. Und ein großes Problem für die Demokratie, wenn die Leute sich nicht mehr um sie kümmern, ihr Recht zu wählen nicht ausüben, und der Pflicht zu wählen nicht nachkommen. Das wird, wenn die Parteien es nicht ernst nehmen, die Demokratie nachhaltig beschädigen.
Deshalb könnte es auch so kommen: Der Mauerfall von Leifers schlägt in das Gegenteil um. Die Mauern werden wieder und weiter befestigt, die Verhältnisse entmischt. Die SVP und die italienischen Rechten werden Giovanni Seppi zu einer Koalition drängen wie in der Landesregierung. Alles andere würde den Koalitionsfrieden zwischen SVP, Fratelli d’Italia und Lega gefährden.
Die Renationalisierung, mit der die Rechten und Rechtsextremen den Leuten in Europa den Kopf verdrehen, soll im Kleinen auch in Leifers stattfinden. Zu den Leuten, die die EU zurückbauen wollen zugunsten der Nationalstaaten, gehört auch Giorgia Meloni (von Lega-Führer Matteo Salvini ganz zu schweigen). Die Südtiroler Volkspartei und deren EU-Parlamentarier Herbert Dorfmann sind für die Fratelli d’Italia weit offen, in Bozen ist die Brandmauer nach rechts schon eingerissen.
Ein Vorbild für Brüssel? Fällt die Mitte nach rechts und weit rechts, hat die Europäische Union keine Zukunft, wird sie nur mehr eine leere Hülle sein.
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