Leitartikel

Gespür für die Leute

 

60 Prozent der Wahlberechtigten sind bei den Stichwahlen in Bozen und Meran nicht wählen gegangen. Das ist Gift für die Demokratie.

In den Städten Meran und Bozen hatten die Leute die Wahl. Und gingen paradoxerweise nicht wählen. Die Wahlbeteiligung lag bei 40 Prozent.

Das ist Gift für die Demokratie.

In den ersten Interviews sagen die Sieger (und die -Verlierer) dann, das sei ein „Wermutstropfen“. Was man halt so sagt, wenn man nicht als jemand dastehen will, den die Gleichgültigkeit der Wählerschaft gleichgültig lässt. Man spricht dann von Dialog und Transparenz. Alle, die Politik machen, müssen sich ernsthaft fragen: Was ist da los, was kann ich besser machen?

Aber meistens wird der Wermutstropfen noch im Rausch weggespült. Schnell geht man zur Tagesordnung über, schließlich muss man ja jetzt regieren. Wer regiert, verliert heute schnell das Gespür für die Leute.

Die sinkende Wahlbeteiligung macht es schwer, tragfähige Lösungen für die Zukunft zu finden. Denn wie soll das gehen, wenn es einen immer größeren Teil der Bevölkerung gibt, der grundsätzlich unzufrieden ist, verdrossen über die Politik, so, wie sie ist?

Misstrauen ist einer der Grundzüge unserer Gesellschaft. Auch wir, die Medien, müssen uns fragen, ob und wie wir dazu beitragen. Doch auch die Politik muss sich ehrlich machen, sie muss vor allem dafür sorgen, dass die Leute (möglichst alle und nicht nur eine Minderheit) besser leben, dass sie sich mitgenommen fühlen. Es wäre falsch, die Kritik umzudrehen, mit dem Finger auf die Leute zu zeigen. Sie sind nicht grundsätzlich zu faul oder zu träge, sie haben meistens einen Grund, nicht wählen zu gehen. Und das ist der Zustand der Politik, die sich in einer Blase bewegt. Demokratische Teilhabe muss man fördern, auch wenn Entscheidungen dann länger brauchen.

Damit wieder mehr Menschen sich einmischen, mindestens bei einer Wahl, im besten Fall durch eine Kandidatur, also aktiv, muss die Politik das ermöglichen. Durch direkte Ansprache, durch ständigen Dialog, regelmäßige Information, durch geduldiges Erklären. Selbst, wenn einem die Leute auf die Nerven gehen. Wer Politik macht, muss gute Nerven haben.

Es herrscht großer Verdruss in der Gesellschaft, die Stimmung ist schlecht, wahrscheinlich schlechter als die Lage selbst. Viele Menschen haben eben den Eindruck, dass sie nicht gehört werden oder dass sie angehört werden, aber Gespräche keine Konsequenzen haben.

Der Frust hat sich über die Jahre angestaut. Beispiel Lehrpersonen, deren Gehalt seit Jahren gleich geblieben ist. Die den Eindruck haben, dass sie immer wieder vertröstet werden. Das hat Folgen: keine Ausflüge, keine Projekte, keine Sporttage mehr ab Herbst. Das ist eine Belastung für alle.

Viele Menschen sehen das so: Die Politik findet keine Lösung für mein Problem, das gleichzeitig das Problem von vielen ist (zum Beispiel, wenn jemand eine Wohnung sucht). Warum sollte jemand wählen gehen, wenn es keine konkreten Lösungen für sein Problem gibt. Egal, wer an der Macht ist.

Eine Lösung wäre vielleicht, dass Parteien ihre Ideologie überwinden, dass die Leute eine Gemeinde führen, die dafür am besten geeignet sind, die Wählerschaft bestimmen darf, wen sie für geeignet hält. Und dass sie nicht erst wieder befragt wird, wenn fünf Jahre vergangen sind.

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