Kirche in der Krise. Die Ereignisse der vergangenen Tage zeigen: Nach den Missbrauchsfällen hat sie nichts dazugelernt.
Leitartikel
Haben sie es verstanden?
Die Südtiroler Kirche will den sexuellen Missbrauch in den eigenen Reihen aufarbeiten. Und genau hinschauen. Doch dem Hinschauen müssen Taten folgen.
Die Südtiroler Kirche hat die Fälle von sexuellem Missbrauch von einer Münchner Anwaltskanzlei aufarbeiten lassen. Das war vorbildlich, hat viel Geld gekostet und viel Aufmerksamkeit provoziert.
Man konnte meinen, die Kirche habe gelernt aus den Jahren, aus den Jahren der Vertuschung von Missbrauch. Aus den Jahren, in denen die Bischöfe solche Fälle bagatellisiert und geduldet haben. In unserer Titelgeschichte (5/25) über die Studie schrieben wir von einem „Versagen mit System“.
Im Bericht der Münchner Anwälte gibt es den Fall Nr. 16. Er betrifft einen Priester, der eine junge Frau missbraucht hat. Der Prozess gegen ihn wurde vom obersten Gerichtshof wegen Verjährung eingestellt. Dennoch hielt das Gericht ihn für schuldig. Der Priester wurde jedoch weiter als Seelsorger eingesetzt, obwohl er zur Zahlung eines hohen Schadensersatzes verurteilt wurde.
Jetzt wollte Bischof Ivo Muser den Priester ins Pustertal versetzen. Er muss ihn also für unschuldig halten. Obwohl er – und der Generalvikar – es aus dem Urteil des obersten Gerichts besser wissen müssten, obwohl sie sich immer wieder öffentlich schockiert gezeigt haben über den sexuellen Missbrauch in der Kirche.
War also die Aufarbeitung des Missbrauchs durch die Kirche ehrlich oder nur dem öffentlichen Druck geschuldet? Haben die Kirchenoberen wirklich verstanden, was Missbrauch für die Betroffenen bedeutet, was es für sie heißt, wenn ein Täter immer noch in Amt und Würden ist?
Die Glaubwürdigkeit der Kirche hat jetzt jedenfalls einen großen Schaden erlitten, das fragile Vertrauen in die Kirche ist weiter korrumpiert, auch wenn der Bischof die Versetzung des Geistlichen rückgängig gemacht hat. Was da passiert ist, was die Konsequenzen sind, haben wir in der Titelgeschichte in diesem Heft analysiert. Es ist eine Geschichte, die auch viel mit fehlender Transparenz in der Kirche zu tun hat: Warum haben der Bischof und sein Generalvikar die Kirche in diese Lage gebracht, viele Menschen vor den Kopf gestoßen?
Was erzählt uns diese Geschichte über das Denken in der Kirche? Es ist ein Denken, das aus einer Kultur des Schweigens kommt, aus dem Drang, die eigenen Leute, vielleicht aus einer falsch verstandenen Barmherzigkeit heraus, zu schützen und nicht die Betroffenen. Es muss ein Denken sein, das sich tief eingegraben hat. Wie kommt Ivo Muser sonst zur Überzeugung, dass der Priester im Fall Nr. 16 unschuldig ist?
Was verwundert: Bischof und Generalvikar haben nicht mit diesen Reaktionen gerechnet. Haben Sie nicht verstanden, dass sie damit ihre eigene Glaubwürdigkeit und die Glaubwürdigkeit der Kirche in Südtirol beschädigen? Das ist im besten Fall naiv. Im schlimmsten Fall bedeutet es: Sie nehmen das Gutachten, das sie selbst in Auftrag gegeben haben, und dessen Ergebnisse nicht ernst genug.
Der Bischof sagt, er nehme die Sache sehr ernst, er ist, wenn er darüber redet, sehr glaubwürdig. Er hatte den Mut, genauer hinzuschauen. Doch die Aufarbeitung des sexuellen Missbrauchs in der Südtiroler Kirche hat damit erst begonnen.
Denn auf den Mut hinzuschauen und darüber zu reden, müssen Taten folgen, der Mut zu handeln. Auch wenn es schmerzt.
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