Politik

Eine für alle

Aus ff 15 vom Donnerstag, den 12. April 2018

Theiner, Stocker, Kompatscher
„Martha zeichnet sich durch Arbeits- und Durchsetzungskraft aus.“ Landeshauptmann Arno Kompatscher (rechts) über die neue Wohlfahrts­landesrätin (Mitte). Das Bild zeigt die beiden gemeinsam mit Richard Theiner nach der Wahl der Regierung im Landtag. © Alexander Alber
 

ff-Titelgeschichte aus ff Nr. 04-2014: Martha Stocker hat Ehrgeiz, Power und Biss. Sie hat erreicht, was zu erreichen war. Sie ist jetzt endlich Landesrätin. Wer aber ist diese Frau wirklich, die seit Jahren das politische Bild des Landes prägt? Und was hat sie dem Land zu bieten?

Die Stunde null beginnt am Donnerstag um 17.20 Uhr. Im Landtag bedankt sich Martha Stocker bei allen im Saal für ihr „Entgegenkommen“. Sie sagt, ihr sei das Amt als Landtagspräsidentin „sehr angenehm“ gewesen, knapp zwei Monate hatte sie dieses Amt inne. Sie steht auf und packt ihre Sachen, sie darf jetzt auf die Regierungsbank. Die frisch gewählten Regierungsmitglieder gratulieren einander mit Handschlag, Küsschen und Umarmungen, es stellt sich Verbundenheit ein, zumindest nach außen hin. Dann nehmen die acht Platz, Martha Stocker setzt sich zwischen Florian Mussner und Christian Tommasini. Fotoapparate klicken und blitzen. Die 59-Jährige strahlt, sie hat erreicht, was zu erreichen war. Sie ist Landesrätin.
Wenige Minuten später gönnt sie sich mit ihren Mitstreitern ein Glas Sekt. Danach geht sie in ihr Büro am Universitätsplatz, vor ihr liegt schließlich viel Arbeit. Erst gegen 22.30 Uhr schaltet sie das Licht aus und schließt ab. Am nächsten Tag wird sie in ihrer trocken-aufgeräumten Art erzählen, dass sie die Wahl und die Kür zur Landesrätin recht „unemotional“ erlebt habe. Selbstverständlich wird Martha Stocker auch ein bisschen glücklich gewesen sein, als endlich feststand, dass sie Landesrätin ist. Aber genauso selbstverständlich war es, dass sie nicht daran denkt, die Freude allzu sehr öffentlich zu zeigen. Beherrscht, ja, distanziert ihren eigenen Erfolgen gegenüber – so kennt man sie. Öffentliche Gefühle, große Gesten sind ihre Sache nicht.
Die Frau weiß: Niemand gelangt in der Politik ohne eisernen Willen nach oben. Das Besondere an Martha Stocker aber ist, dass sie ihn immer zu verbergen wusste. Sie versteht es, ihren Ehrgeiz und ihre Zielstrebigkeit unter dem Mantel einer unverwüstlichen Freundlichkeit zu verstecken. So hat sie sich ihren Weg nach oben gebahnt. Sie ist jetzt die Superlandesrätin in einem neu zugeschnittenen Ressort mit dem eigentümlichen Namen Wohlfahrt, es umfasst Gesundheit und Sport, Arbeit und Soziales. Auch das Amt der Regionalassessorin wird sie künftig weiterhin ausüben.
Bisher hat Martha Stocker alle ihre Talente dafür genutzt, dahin zu kommen, wo sie jetzt ist. Nun wartet das Land darauf, dass sie sagt und zeigt, was sie vorhat. Inhalte sind gefragt, Profil soll die neue Sanitäts- und Arbeitslandesrätin zeigen, konkret soll sie werden. Man fragt sich: Hat sie nicht nur Power, sondern auch Format? Was hat eine Landesrätin Martha Stocker dem Land persönlich und sachlich zu bieten?
Die 59-Jährige ist ein „political animal“, eine Vollblutpolitikerin. Politik ist ihr Leben. Sie macht sie nüchtern, sachlich, unprätentiös, sieben Tage die Woche, 24 Stunden. Sie weiß, was sie will, und setzt es um. Rund 40 Knochenjahre liegen hinter ihr, in denen sie Partei und Politik zu ihrem Lebensinhalt machte, und in denen sie lernte, auch das zu lieben, was hart macht. Sie hat viele Stürme überstanden, sie hat jetzt einen Sieg errungen. Aber sie ist nicht ohne Blessuren aus dieser Schlacht gekommen. Schul- und Kulturlandesrätin hätte sie werden wollen, davon hatte Martha Stocker schon lange geträumt. Ihr Schicksal lag in der Hand des neuen Landeshauptmannes, dieser hatte etwas anderes mit ihr vor. Als Arno Kompatscher ihr unterbreitete, wofür er sie auserkoren hatte, soll Stocker gar nicht begeistert gewesen sein, sie musste mit sich ringen.
Das Gesundheitswesen gilt bei vielen Politikern als unbeliebt. Die Sanität ist zurzeit wohl eine der größten Baustellen des Landes. Gesundheitslandesräte können es nie jemandem recht machen, nicht den Wählern, den Ärzten, den Interessenverbänden, nicht dem nichtärztlichen Personal. Es ist ein Haifischbecken. Wer politisch aufsteigen will, sucht sich deshalb ein anderes Feld aus. Auf der anderen Seite ist vor allem das Gesundheitswesen ein Schlüsselressort, kein anderer Bereich ist so hoch dotiert wie dieses. Martha Stocker hätte die Chance, dem scheinbar so undankbaren Amt ihre Handschrift aufzudrücken. Vielleicht wird sie der Sanitätspolitik eine neue, klare Richtung geben. Sicher ist das nicht.
Wir begegnen Martha Stocker im Landtag, um mit ihr über sich, ihren Werdegang und ihre neue Aufgabe zu reden. Sie sitzt in einem der schwarzen Ledersessel im Foyer des Landtages. Es ist der Tag nach der Wahl der Landesregierung. Sie strahlt noch immer, wirkt entspannt und locker. Sie will den Eindruck erwecken, als sei sie ganz mit sich im Reinen. Nicht enttäuscht, dass es doch nicht zum Schul- und Kulturressort gereicht hat? „Ich werde immer ein Kulturmensch bleiben“, antwortet die Landesrätin. Freilich, dieses Amt wäre die logische Konsequenz gewesen. „Die Frage aber ist: Ist es die Erfüllung, das zu tun, was man schon kennt? Oder ist es die viel schönere Herausforderung, etwas tun zu dürfen, wo man noch jede Menge lernen kann?“
So kann man es auch sehen. Stocker wirkt aufgekratzt. Sie lacht viel, als sie von ihrer neuen Aufgabe erzählt, von ihrem eigenen Schwanken. Sie trägt die Miene einer Siegerin, sie sagt: „Möglicherweise hat man mich richtig eingeschätzt: Ich brauche die Herausforderung. Setze ich mich erst einmal mit etwas intensiv auseinander, kommt automatisch die Freude. Das zieht sich wie ein roter Faden durch mein Leben.“ Es sind viele Stempel, die dieser Frau im Laufe ihrer Karriere aufgedrückt worden sind. Stocker, die Patriotin. Stocker, die Strategin und Netzwerkerin. Stocker, die Parteisoldatin. Jüngsthin nennen sie manche auch gerne die „Angela Merkel Südtirols“.
Martha Stocker ist auf den ersten Blick nahbar und zugänglich – und bleibt doch stets auf Abstand. Sie ist freundlich und verbindlich und erscheint doch fremd. Wenn sie über etwas nicht gerne spricht, schiebt sie ihr Kinn vor und zieht die Mundwinkel runter, bis ihr Mund irgendwie verschwunden zu sein scheint. Gemütszustände sind ihr ins Gesicht geschrieben. Man will wissen, wer das ist, diese Frau, die seit Jahren das politische Bild dieses Landes prägt.

Martha Stocker ist 1954 als Älteste von acht Kindern geboren, aufgewachsen auf dem elterlichen Bauernhof Garber in Kematen (Sand in Taufers), ledig, seit fünfzehn Jahren sitzt sie für die Südtiroler Volkspartei im Landtag. Sie ist atemlos durch die Hierarchien der Partei gerannt, als Ortsjugendreferentin, Ortsobfrau und Gemeinderätin in Kematen, als Landesjugendsekretärin der Jungen Generation, als Landesfrauenreferentin, als Vorsitzende des Ausschusses für Schule und Kultur sowie der SVP-Statutenkommission, und seit vier Jahren auch als Parteiobmannstellvertreterin. Sie kennt die Politik also von ganz unten, von innen und von außen, sie kennt mittlerweile wohl alle Tricks des politischen Geschäfts. Der Grünen-Abgeordnete Hans Heiss bezeichnet sie als „politische Marathonläuferin in der SVP“, sie sei „ein politischer Leitstern der Partei“.
Die Pustererin arbeitete sich aus einfachen Verhältnissen hoch, schlug sich als Sekretärin bei verschiedenen Firmen durch, holte mit 22 Jahren die Matura nach, um in Innsbruck Geschichte und Germanistik zu studieren, unterrichtete an verschiedenen Schulen. Als Älteste hatte sie immer das Gefühl, ständig auf alle schauen zu müssen. Das ist bis heute so geblieben.
Ihr Weltbild speist sich aus den Erlebnissen ihrer Kindheit im Südtirol der Sechzigerjahre. Ihre Familie hatte damals eine Alm in Defereggen, um dorthin zu gelangen, musste man die Landesgrenze überqueren. Kontrollen standen auf der Tagesordnung, ebenso die Verdächtigungen, Sprengstoff zu schmuggeln. Es waren Akte der Demütigung. Das Gefühl der Minderwertigkeit, das Ausgeliefertsein und die Ohnmacht prägten Martha Stocker. „Ich habe erlebt, wie unsere Leute wie Menschen zweiter Klasse behandelt wurden“, erzählt sie. „Ich wollte, dass sie wieder aufrecht und selbstbewusst gehen können.“
Stockers Antrieb ist das hehre Ziel, Gerechtigkeit herzustellen – in allen Belangen des Lebens. Deshalb ist sie in die Politik gegangen. Deshalb hat es sie auch, die sich innerparteilich nie gern hat einordnen lassen, in die SVP-Frauenbewegung verschlagen. Als sie 1999 für den Vorsitz der Bewegung kandidierte, steckten keine feministischen Gründe dahinter. Es ging ihr in erster Linie darum, „alle Frauen in der Partei auf Augenhöhe mit den Männern zu bringen“, sagt sie heute. Mehr
Frauen in mehr Gremien, das war das Ziel.
Julia Unterberger, damals Vorsitzende des Beirates für Chancengleichheit, war mehr als skeptisch über diese neue Frauenvorsitzende. Die traditionsbewusste Stocker passte so gar nicht in ihre Gedankenwelt. „Ich dachte, die hat keine Ahnung von Frauenpolitik“, erzählt Unterberger. „Ich hatte mich geirrt.“ Innerhalb kürzester Zeit hatte sich Stocker in die Materie eingearbeitet, so, wie sie das immer macht. Sie versteht es, sich von außen oder von ihrem Team jene Informationen und Kompetenzen zu holen, über die sie nicht verfügt. Bei den zwei Frauen hat es irgendwann klick gemacht, „wir haben wunderbar harmoniert“, sagt Unterberger. Ob beim Thema Frauenförderung, Gleichstellungsgesetz oder Frauenquote, bald hieß es unterm Edelweiß: „Diese Weiber halten zusammen wie Pech und Schwefel.“
Frauenpolitik kann auch viele einflussreiche Verbündete bedeuten. In den zwölf Jahren ihrer Zeit als Vorsitzende hat es Stocker verstanden, sich ein stabiles Netzwerk aufzubauen. Es hält bis heute. Jene, die sie gut und lange kennen, bezeichnen sie als geschickte Parteistrategin. Sie wisse ihr Netzwerk zu nutzen – vor allem für sich selbst. Einige bezeichnen sie als „Ich-AG“, die sich zugleich darauf verstehe, den anderen ein Wir-Gefühl zu vermitteln. Sie halte zwar Kritik aus, könne aber auch „ihre Ellbogen ausfahren“. „Die Martha duldet niemanden gerne neben sich“, sagen einige Weggefährten.

Wer sich mit Martha Stocker anlegt, muss wissen, dass sie klug, diplomatisch und zäh ist. Und dass sie erprobt ist im parteipolitischen Nahkampf. So hat sie sich über Jahre gehalten und durchgesetzt. Einfach war das nicht immer. Ihr Verhältnis zu Altlandeshauptmann Luis Durnwalder war nicht immer das beste, er hätte sie aufgrund ihres Wahlergebnisses mehr als einmal zur Landesrätin machen können – hat es aber nicht. Sie lernte mit den Jahren, mit der Macht umzugehen, wie man sich Mehrheiten besorgt, um Ideen durchzubringen.
„Sie ist zäh, zielstrebig und extrem fleißig.“ Egal, mit wem man über Martha Stocker spricht – ob mit SVPlern, Oppositionellen oder Weggefährten, eine Variante dieser Antwort bekommt man immer zuerst. Strenge Selbstdisziplin, unbändiger Arbeitseifer und ein tiefes Pflichtgefühl zeichnen die Pusterer Politikerin aus. Sie ist ein Produkt ständigen Bemühens. Sich der eigenen Macht in keiner Sekunde sicher zu sein und sie nicht als statischen Zustand zu begreifen, ist oberste Pflicht.
„Sie hat immer das Ganze im Auge. Und ist immer zwei Schritte voraus“, sagt zum Beispiel ihre langjährige persönliche Referentin Siegrid Pescoller. Ihren Entscheidungen würden stets tiefgründigen Überlegungen zugrunde liegen, ihr Wissen sei unglaublich: „Sie wäre der geborene Telefonjoker für die Millionenshow.“ Oder Vera Malleier, Geschäftsführerin der SVP-Frauenbewegung, sagt: „Sie hört zu, erarbeitet sich die Themen, erst dann äußert sie sich auch dazu.“ „Sie ist eine harte und konsequente Arbeiterin“, sagt Gottfried Tappeiner. Der Wirtschaftsprofessor an der Uni Innsbruck kennt Martha Stocker seit Studienzeiten sowie von seiner Tätigkeit als Präsident des Zusatzrenteninstituts Pensplan, für das Stocker in den vergangenen Jahren als Regionalassessorin zuständig war. Er beschreibt Stocker als „geradlinige“ Politikerin, die gerne im Team arbeite, und bescheinigt ihr eine „exzellente Streitkultur“. Sie denke wertkonservativ, sei traditions- und heimatverbunden, beim Suchen von neuen Wegen aber „erstaunlich offen“.
Beide, Tappeiner und Stocker, waren in der Innsbrucker Zeit in der Südtiroler Hochschülerschaft (SH) aktiv. Die Studentenvereinigung bestand damals aus zwei Gruppen, der „blinzelnden Eule“ und der „Lupe“. Während Stocker und Tappeiner der gemäßigteren, eher in der politischen Mitte angesiedelten Lupe angehörten, fanden sich in der linken Eulen-Gruppe Personen wie Günther Pallaver oder Christoph von Hartungen. „Es ist damals ziemlich hart zur Sache gegangen“, erzählt Politikwissenschaftler Pallaver. „Wir haben uns gegenseitig nichts geschenkt.“ Die „ethnopolitische Linie“ von Martha Stocker sei damals schon sichtbar gewesen. Palaver bescheinigt ihr, durch und durch die politische Ziehtochter von Silvius Magnago zu sein. „In der neuen Regierung ist sie wahrscheinlich die einzige, die noch die politische Kultur Magnagos vertritt.“
Spricht man Martha Stocker auf ihren Mentor und ihr politisches Vorbild an, sagt sie nur: „Er war und ist der Große Südtirols. Er hat mich wesentlich geprägt.“ Er habe bei ihr und ihrer Generation eine „Total-Identifikation mit der Partei“ erreicht. Er war die Partei, was er sagte, war zu verteidigen.
Ihre persönliche Zuneigung zu Magnago habe sich in ihrer Zeit als Landesjugendsekretärin entwickelt, erzählt sie. Der damalige Landesjugendreferent Gottfried Vonmetz und sie hatten innerhalb der JG mit der volkstumspolitisch härteren Gruppe der „Durchsichtigen“ zu kämpfen, dazu zählten Christian Waldner und Pius Leitner. War sie den Eulen-Leuten „zu rechts“, war sie Waldner & Co. „zu links“, „zu lasch“. Magnago stand der jungen Stocker zur Seite und wirkte beruhigend auf sie ein. Heute gilt Martha Stocker als eine der wenigen Volkstumspolitikerinnen innerhalb der Volkspartei. Zu Diskussionen in Sachen Selbstbestimmung, Schützen und Volkstumspolitik schickt die SVP sie. Sie trägt Tracht, ihre Wurzeln, die Traditionen und Bräuche des Landes sind ihr wichtig. Sie nimmt jedes Jahr bei der Gedenkfeier für Sepp Kerschbaumer in St. Pauls teil. Sie war es auch, die an diesem Montag als SVP-Vertreterin zur Beerdigung des österreichischen Verlegers und Widerstandskämpfers Fritz Molden nach Wien geflogen ist.
Der Historiker und Abgeordnete Hans Heiss sagt, Stocker halte in der SVP die Mitte „zwischen heimatorientierter Volkstumslinie, europäischer Minderheitenpolitik, moderat progressiver Frauen- und Sozialpolitik und einem ordentlichen Schuss Pragmatismus“. Stocker selbst sagt: „Die einen ordnen mich links ein, die anderen rechts. Ich bin Sammelpartei, im wahrsten Sinne des Wortes.“ Die Volkstums- und Heimatpolitik sei dabei „das Fundament“, sie sei das, wovon sie „zehre“. – Haben Sie in dieser Hinsicht manchmal mit ihrer Partei zu hadern? – Es gibt durchaus Momente, in denen ich nicht ganz glücklich bin. –
Pius Leitner, Fraktionsvorsitzender der Freiheitlichen, bescheinigt Stocker zwar Bodenhaftung und ausgezeichnete Kenntnisse der Südtiroler Autonomiegeschichte. Er bezweifelt jedoch, dass sie sich in ihrer Partei immer wohl fühle. „Ich weiß, wie die Martha denkt. Sie müsste sehr oft im Zwiespalt mit ihrer Partei sein. Weil sie volkstumspolitisch oft Positionen vertreten muss, von denen sie mit Sicherheit nicht überzeugt ist.“
Geht es um ihr anderes, privates Leben, ist Martha Stocker zurückhaltend. Wer sie im richtigen Moment und in lockerer Atmosphäre trifft, erlebt eine unterhaltsame Frau. Dabei überdenkt sie auch eigene Positionen. Sie weiß zum Beispiel, dass sie nicht gut singen kann – trotzdem tut sie nichts lieber. Sie tut sich schwer, Entscheidungen zu treffen, die sie persönlich betreffen. „Es ist also ganz gut, wenn ich ab und zu meinem Glück gezwungen werden muss“, sagt sie.
Die Pole im Leben der Martha Stocker sind – neben der Politik – ihre Familie und der Fußball. Wenn es die Zeit erlaubt, findet man die Politikerin sonntagnachmittags auf dem Fußballplatz. Zwischendurch zieht es sie zu einem Spiel des FC Bayern München in die Allianz-Arena. „Wobei ich eigentlich Kaiserslautern-Fan bin“, sagt sie. Sie schwärmt vom ehemaligen Trainer und Fußballer Karl-Heinz Feldkamp und der einmaligen Stimmung am Betzenberg. Auch das ist Martha Stocker.
„Sie sucht zwischendurch gerne die Einsamkeit“, sagt die langjährige SVP-Chefsekretärin Margareth Greif. Ob beim Heuarbeiten, beim Lesen („Sie ist eine absolute Leseratte.“), bei Sprachkursen oder wenn sie sich im Sommer für zwei Wochen auf den Jakobsweg begibt. Vor sieben Jahren ist sie zum ersten Mal gepilgert, seitdem jedes Jahr wieder. Dort reduziere sich alles auf das Wesentliche. „Es macht den Kopf frei“, sagt sie. „Man kann auch seine Traurigkeit ausleben, man wird ein zufriedener, versöhnter Mensch.“
SVP-Frauen-Geschäftsführerin Malleier sagt, Martha Stocker sei im Laufe der Jahre „noch volksnäher“ geworden. Stocker selbst sagt, sie sei von Natur aus ein eher introvertierter Mensch. In dem Moment, als sie gewählte Politikerin war, musste sie sich ändern, und ist sich doch treu geblieben. „Wenn man von den Menschen das Vertrauen geschenkt bekommt, muss man sich anders bewegen, man muss auf sie zugehen“, sagt Stocker.
Gefragt nach ihren Stärken, überlegt sie lange. Dann beginnt sie zu lachen und sagt: „Das Lustige ist, dass ich jetzt normal bin.“ – Wie bitte? – Nun, alle sprechen jetzt vom neuen politischen Stil, auf die Leute zugehen, ihnen zuhören, den Dialog suchen. Das habe ich immer schon getan. Insofern bin ich in der Normalität angelangt. –
Martha Stocker wirkt fast immer wie der ruhige, besonnene Mensch, der sie eben ist. Sie ist der Typ Politikerin, die bis spät in die Nacht Akten paukt, Papiere studiert, an Reden feilt und am nächsten Tag trotzdem nicht müde aussieht. Erschöpft sieht man sie am ehesten vor Enttäuschung – bei Niederlagen, persönlichen ebenso wie bei jenen der Partei. Man fragt sich, woher die Frau bloß die viele Energie nimmt. „Meine Aktivität liefert mir die Energie“, sagt Stocker. „In dieser Beziehung ist sie nicht normal“, keifen Vertraute. Ob Twitter, Facebook, Englischkurse, der neueste Bestseller oder Bürgersprechstunden: Stocker ist unermüdlich, immer auf dem neuesten Stand. Bleibt die Frage: Nützt ihr all das für ihre neue Aufgabe? Oder sind ihr Bemühen und ihre ständige Dialogbereitschaft ein Problem in der Politik? Was für eine Gesundheitspolitik ist von ihr zu erwarten?

Am vorletzten Tag des vergangenen Jahres führte ein eigenartiger Zufall Martha Stocker in die Erste Hilfe des Bozner Krankenhauses. Im Parteiausschuss war sie soeben von ihrer Partei zur neuen Wohlfahrtslandesrätin designiert worden. Wenig später, auf dem Heimweg, fuhr sie mit einer anderen Radfahrerin zusammen. Während sie sich nur eine Beule am Kopf holte, traf es die andere Fahrerin etwas schlimmer – Stocker begleitete sie in die Notfallaufnahme. Viereinhalb Stunden saß sie dort in einer Ecke und beobachte das Treiben. „Es war höchst interessant“, sagt sie. Ihr sei während des Wartens die eine oder andere Idee für ihre Arbeit als Sanitätslandesrätin gekommen.
Welche, verrät sie freilich nicht. Das ist typisch Stocker: Sie beobachtet erst einmal, wohin sich die Dinge entwickeln, sie informiert sich und studiert Papiere, dann erst rennt sie los. Das Bedürfnis nach Harmonie und Konsens ist bei der 59-Jährigen mitunter so groß, dass ihr manchmal die entsprechende Entscheidungskraft fehlt. Einige Weggefährten und SVPler fragen sich, ob sie die nötige „kluge Härte“ besitzt, ihre Überzeugungen vor allem zur Zukunft der Sanität im Lande in ihrer Partei, in der Regierung und innerhalb der Ärzteschaft durchzusetzen. In bestimmte Gefechte, sagen Vertraute, könne sie sich verbeißen. Da könne sie schon mal etwas zu rechthaberisch auftreten. „Sie muss ihre Arbeit mit Biss und Respekt angehen“, sagt zum Beispiel Stefan Hofer, Parteikollege und Präsident des Dachverbandes der Sozialverbände. „Will sie erfolgreich sein, wird sie einige heilige Kühe schlachten müssen.“
Fragt man bei der Ärzteschaft nach, was sie sich von der neuen Landesrätin erwarten, erhält man als Antwort oft nur ein gequältes Lächeln. Viele haben sich schon lange innerlich verabschiedet, sie erwarten sich gar nichts mehr. Sie sagen, weil man mit engagierter Arbeit und konstruktiven Änderungsvorschlägen in diesem System gegen Gummiwände kämpfen müsse.
Viele andere hoffen auf einen „guten und offenen Dialog“, endlich ein funktionierendes Krankenhausinformationssystem, eine Überarbeitung des zentralen Patientenanmeldesystems („ein Monstrum an Bürokratie“). Die praktische Umsetzung der politischen Beschlüsse sollte künftig verstärkt kontrolliert werden, es brauche endlich den Mut, „personell auch unangenehme Entscheidungen zu treffen“. Die Wunschliste ist lang. Eine davon haben die Primare des Landes vor geraumer Zeit bereits einmal dem früheren Landesrat Richard Theiner übergeben. Im Gespräch mit ff merken einige an, bevor diese in einer Schublade verschwindet, sollte sich die neue Landesrätin diese doch bitte von Theiner übergeben lassen. Der Tipp an Stocker: sich nicht von ein paar Leuten im System verblenden zu lassen. Mehr auf Ergebnisse und Leistungszahlen Rücksicht nehmen.
Anfang dieser Woche traf sich die neue Landesrätin mit Verantwortlichen des Sanitätsbetriebes. In den nächsten Wochen wird sie durch die verschiedenen Einrichtungen tingeln, mit Fachleuten und Mitarbeitern sprechen, zuhören. Stärkung der Basismedizin, Entlastung der Krankenhäuser, Umsetzung eines einheitlichen Informationssystems – noch hört man von der Landesrätin viele Allgemeinplätze. Vielleicht trägt am Ende all dieser Wehen rund um das Gesundheitswesen mit all seinen Reformen vieles ihre Handschrift. Leicht wird es nicht.
Ein herausragender Charakterzug könnte ihr anfangs helfen: ihre stählerne Selbstdisziplin. Ein Beispiel: Seit sie in Spanien (sie war damals auf dem Jakobsweg unterwegs) wegen eines erlittenen Magendurchbruchs notoperiert werden musste, raucht sie keine einzige Zigarette mehr. Das will was heißen, denn Stocker war Vielraucherin. Gestrichen ist seitdem auch der Espresso. Jetzt ist Ginseng-Kaffee angesagt.

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„Ihre SVP-Loyalität wurde in der Ära Silvius Magnago unzerstörbar gehärtet und überwiegt eigene Karrierewünsche bei Weitem.“

Hans Heiss, Grünen-Abgeordneter, über Martha Stocker

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