Die Coronakrise zeigt, dass es ohne Kassiererinnen, Pflegekräfte, Busfahrer, Ärztinnen, Bestatter und Lieferanten nicht geht. 15 Protokolle aus einem unsicheren Alltag.
Politik
Unterschätzte Gefahr
Aus ff 13 vom Donnerstag, den 26. März 2020
Alberto Ceresoli, Direktor des Eco di Bergamo, über die dramatischen Auswirkungen des Coronavirus auf die Lombardei – und Versäumnisse, die sich als fatal erwiesen haben.
ff: Herr Direktor, die jüngsten Zahlen lassen hoffen, dass das Schlimmste vorbei ist.
Alberto Ceresoli: Ich fürchte, Sie irren sich. Die Zahl der Infizierten und der Toten steigt nach wie vor. Außerdem zeigt die offizielle Statistik nur einen Teil der Wahrheit. Die tatsächliche Opferzahl ist weit höher, viele Tote werden nicht als Coronatote angeführt, weil sie weder behandelt noch auf eine Infektion überprüft wurden.
Beschreiben Sie bitte die Situation in Bergamo.
Ich stelle mir vor, so muss es im Krieg gewesen sein: Jeden Tag bekommt man eine unglaubliche Liste von Toten präsentiert. Sie müssen sich vorstellen, seit rund 14 Tagen druckt meine Zeitung im Durchschnitt 12, 13 Seiten Todesanzeigen. Einmal hatten wir 23 Seiten voller „necrologi“. Aber was das Schlimmste ist: Die Menschen sterben alleine, ohne dass sich die Angehörigen von ihnen verabschieden können. Gestern (Mittwoch, 18. März; Anm. de. Red.) habe ich gesehen, wie Lastwagen des Militärs in die Stadt kamen, um 35 Särge aufzuladen. Der Verbrennungsofen von Bergamo schafft es nicht mehr, die armen Toten müssen, ich weiß nicht wo, eingeäschert werden. Wütend macht mich …
Was macht Sie wütend?
… dass es immer noch Leute gibt, die Statistiken schönreden und sagen, an Coronavirus würden mehr oder weniger ebenso viele Menschen
sterben wie an Grippe. Was für ein menschenverachtender Schmarrn! Tote sind nicht Zahlen, sondern Menschen wie du und ich, Tote sind Väter, Mütter, Opas, Omas. Und es stimmt auch nicht, dass nur alte Menschen gefährdet sind. Vor wenigen Tagen starb hier ein 48-Jähriger. Er arbeitete als Freiwilliger beim Roten Kreuz und war gesund – bis er sich ansteckte.
Wie erklären Sich sich, dass die Lombardei dermaßen stark betroffen ist?
Dazu gibt es derzeit nur Mutmaßungen. Die Lombardei ist sicherlich ein wirtschaftliches Drehkreuz, hier konzentriert sich alles, hierher kommen Menschen aus der ganzen Welt. Bergamo hat mit Orio al Serio den drittgrößten Flughafen Italiens, in den extrem stark betroffenen Gemeinden Nembro und Alzano gibt es viele internationale Unternehmen (darunter Zerowatt, das für Candy Hoover Elektrogeräte herstellt und zum chinesischen Haier-Konzern gehört; Anm. d. Red.). Darüber hinaus ist hier der Anteil älterer Menschen überdurchschnittlich hoch.
Was halten Sie von der These, dass die hohe Luftverschmutzung mitschuldig sein könnte?
Mah, solche Thesen finde ich abenteuerlich. Jetzt versuchen alle, Wasser auf ihre ideologischen Mühlen zu leiten. Ich finde, man sollte vorsichtig sein, bevor man Thesen in die Welt setzt, für die es keine Anhaltspunkte gibt.
Blicken wir zurück, wie hat das alles angefangen?
Es begann am 21. Februar, es war ein Freitag. An jenem Tag gab es in Bergamo den ersten Corona-Verdachtsfall. Ich erinnere mich noch gut, weil dieser erste Fall natürlich auch in der Redaktion für Aufregung gesorgt hat. Die infizierte Person kam ins Krankenhaus, wurde getestet – und der Test fiel negativ aus. Alle atmeten auf. Tags drauf gab es dann in Nembro – die Stadt liegt nur wenige Kilometer von Bergamo entfernt – einen ersten Todesfall. Aber niemand ahnte damals, wie rasch sich die Situation verschlimmern sollte.
Wurden Fehler gemacht, wurde die Situation unterschätzt?
Es ist jetzt nicht die Zeit, Polemiken anzuzetteln. Sicher war es ein Fehler, Nembro und Alzano, wo die ersten Fälle auftauchten und es rasch klar war, dass sich dort ein Infektionsherd befindet, nicht sofort zur roten Zone erklärt zu haben. Noch am 6. März waren in unserer Region alle bei der Arbeit, die Fabriken liefen auf Hochtouren. Damals hieß es noch: Um Himmelswillen, wir können doch nicht alles zusperren, das wäre ökonomisches Harakiri! Ja, im Nachhinein muss festgestellt werden: Das war ein Fehler, ein Fehler der Politik, der Wirtschaft, ja ein Fehler aller.
Auch das Gesundheitssystem dürfte völlig überrascht worden sein.
Ja klar. Wobei ich aber bei aller Kritik schon feststellen möchte, dass das Gesundheitssystem in der Lombardei hervorragend funktioniert. Unsere Krankenhäuser gehören zu den besten in Europa – zum Glück, denn ansonsten wäre alles noch weit schlimmer. Trotzdem sind wir jetzt an einem Punkt angelangt, wo auch ein noch so gutes Gesundheitssystem an seine Grenzen stößt. Die Krankenhäuser kollabieren, Ärzte und Pfleger tun ihr Möglichstes, aber wer konnte sich vorstellen, dass dieses Virus derart krasse Auswirkungen hat.
Keine Besserung in Sicht?
Experten sagen, der Peak, also der Höhepunkt, sei noch nicht erreicht – vielleicht gelingt dies rund um den 25. März. Derzeit wird darüber nachgedacht, die Maßnahmen noch weiter zu verschärfen. Wenn es immer noch Leute gibt, die den Ernst der Situation nicht wahrhaben wollen, dann müssen eben andere Register gezogen werden.
Südtirol schaut sehr besorgt auf die Situation in der Lombardei.
Das kann ich verstehen – und mir scheint, ihr habt bisher richtig reagiert. Sorgen bereitet mir, wenn ich sehe, was etwa in Frankreich, Deutschland oder Großbritannien passiert: Dort scheint man immer noch nicht realisiert zu haben, wie gefährlich das Coronaviurs ist. Stimmt es, dass in Deutschland am 15. März Skigebiete noch offen hatten und die Leute in den Gastgärten zusammensaßen?
Das stimmt.
Nicht zu fassen. Heutzutage müsste es doch ein Leichtes sein, von den Erfahrungen und Fehlern der anderen zu lernen und rechtzeitig Maßnahmen zu ergreifen, um genau das zu verhindern, worüber wir hier reden. Stattdessen scheint man zu glauben, dies sei alles bloß ein italienisches Problem. Das wäre ein fataler Fehler, denn dadurch macht man den zeitlichen Vorsprung zunichte. Ich kann Ihnen versichern: Covid-19 ist definitiv kein chinesisches, italienisches oder lombardisches Problem, sondern ein weltweites.
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Das Notstandsgebiet
Am 22. Februar gab es in Europa die ersten beiden Todesfälle infolge einer Infektion durch das Coronavirus: Betroffen waren ein 78-Jähriger Mann aus der Nähe von Padua in Venetien und eine 77-Jährige Frau aus der Nähe von Cremona in der Lombardei. Bereits zu diesem Zeitpunkt häuften sich in Codogno und Casalpusterlengo die Infektionsfälle. Die beiden Kleinstädte befinden sich etwa 20 Kilometer nördlich von Piacenza. Aus Casalpusterlengo kommt auch der sogenannte Patient 1: Es handelt sich um einen Beschäftigten des niederländisch-britischen Unilever-Konzerns, der hier eine Niederlassung hat. Daraufhin wurde in den direkt betroffenen Gemeinden die Schließung der Schulen und öffentlichen Lokale verordnet. Das Virus hatte sich aber bereits weiter verbreitet.
Seit 8. März sind die Lombardei und Venetien weitgehend abgeriegelt, trotzdem steigt sowohl die Zahl der Infizierten wie jene der Toten. Besonders kritisch ist die Lage in der Stadt Bergamo mit 122.000 Einwohnern. Vergangene Woche musste das Militär anrücken, um die Särge mit den Verstorbenen zur Einäscherung außerhalb der Stadt zu bringen. Innerhalb von 7 Tagen gab es 300 Tote. Alberto Ceresoli, Direktor der Tageszeitung Eco di Bergamo, sagte im Gespräch mit ff, er habe sich nie vorstellen können, dass das Geschäft mit den Todesanzeigen dermaßen tragische Ausmaße annehmen würde: In der Ausgabe vom 20. März, die ff vorliegt, füllen die „necrologi“ (Todesanzeigen) 12 Seiten. In der Lombardei sind bislang 3.776 Menschen (Stand Montag, 17 Uhr) an Covid-19 gestorben.
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