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Politik
Der Kanalarbeiter
Aus ff 13 vom Donnerstag, den 28. März 2024
Jürgen Wirth Anderlan gibt auch als Landtagsabgeordneter den Provokateur. Damit bereitet er den Boden für Rechtsextremismus.
Jürgen Wirth Anderlan ist seit fünf Monaten Abgeordneter des Südtiroler Landtages. 14.043 Wählerinnen und Wähler haben ihn gewählt. Wie aber arbeitet JWA eigentlich im Landtag?
Nun, bei der Debatte um die Änderungen zum Haushaltsvoranschlag für 2024 – es geht immerhin um die beträchtliche Summe von 650 Millionen Euro – schweigt er, zwei Tage lang. Kurz vor Ende der Debatte äußert sich der 53-Jährige dann doch: „Für einen Neuen ist das alles ein ziemlicher Wirrwarr und unverständlich. Gesteht mir bitte zu, dass ich mich nicht in Themen einmischen werde, wo ich nicht viel verstehe.“
Andere würden das Eingeständnis der eigenen Ignoranz zum Anlass nehmen zu lernen, oder vielleicht bescheiden auftreten. Bei JWA ist das anders. Auf sein Unwissen ist der Mann stolz. Es ist der Ausgangspunkt für seine wilden Attacken. Zwar seien hier viele schöne Worte gefallen, sagt er, aber mit der Realität habe das alles wenig zu tun. „Wenn ich in der Privatwirtschaft so arbeiten würde, dann wäre ich wohl morgen schon bank-rott.“ Man sollte wissen, JWA war mal Skilehrer und ist Obstbauer. In der Schlussabstimmung enthält er sich.
Ein wichtiger Teil der Abgeordnetenarbeit findet in den Gesetzgebungsausschüssen statt, dort wird beraten, wie die Politik des Landes aussehen soll. JWA aber arbeitet lediglich in einem von vier Ausschüssen mit, der erste Beschlussantrag seiner Fraktion in dieser Amts-periode handelte von der Verwendung von „korrektem Deutsch in Politik und Verwaltung“, zu einem wichtigen Gesetz wie dem Landeshaushalt gibt es von ihm keinen Redebeitrag in der Generaldebatte und auch keine Verbesserungsvorschläge. Ein Großteil der Kolleginnen und Kollegen im Landtag sagt: Die parlamentarische Arbeit von Wirth Anderlan sei bislang dürftig; im Gegensatz zu seiner populistischen Arbeit auf Instagram und TikTok: Die funktioniere blendend.
Jürgen Wirth Anderlan will Politik nicht gestalten, er benutzt sie als Bühne, um zu polarisieren. In seinen Videos verspottet er nahezu jeden. Sein Mundwerk wirkt wie ein automatisiertes Schießgewehr. Wer ihm vor die Flinte kommt, den macht er nieder. Den Regionalrat in Trient nennt er „Blinddarmrat“, wo man den „Präsidenten für Stützstrumpfhosen“, den „Assessor für Umkleidekabinen“ und den „Beauftragten für Kobisblätter“ wählen würde. Die Veranstaltung mit Minister-präsidentin Giorgia Meloni nannte er ein „Schleimspurtreffen um den Goldenen Pinocchio“.
JWA kann mit dieser Methode auf große italienische Vorbilder zurückgreifen. Der Gründer der Fünf-Sterne-Bewegung, der Komiker Beppe Grillo, verunglimpfte Politiker auf übelste Weise und hatte damit Erfolg. In den Vierzigerjahren wütete ein gewisser Guglielmo Giannini gegen „die da oben“, er gründete die Partei „Fronte dell’Uomo Qualunque“ und sammelte zeitweise Hunderttausende Wählerstimmen. JWA steht in dieser Tradition. Diese Politiker sprechen den Bauch der Menschen an, nicht den Kopf. Deswegen ist Unwissen für ihn ein Qualitätsmerkmal. Der Bauch, der etwas weiß, ist kein Bauch mehr.
Jürgen Wirth Anderlan kann man nicht übersehen. Er trägt eine Glatze mit Vollbart, ist durchtrainiert und stark tätowiert. Seine Stimme hat Volumen. Seit knapp fünf Jahren berserkert der Kalterer Landwirt durch die Südtiroler Politik – zunächst als Landeskommandant der Schützen, dann als Rapper, als Kritiker der Corona-Maßnahmen und nun als Landtagsabgeordneter.
Was er vorhat mit Südtirol, lässt sich vor allem aus seinen Videobotschaften und Einträgen in den sozialen Medien erahnen: „Massenmigration stoppen“, „Remigrationsprogramme“ entwickeln, illegale und kriminelle Ausländer abschieben, deutsche Schulen für deutsche Kinder, tägliche Sportstunden an Schulen. JWA bezeichnet sich als „neue unangepasste Kraft“ im Land, die nicht nur im Landtag aktiv sei, sondern auch im Netz und auf der Straße. Man schimpft gegen die „korrupten EU-Eliten“, leugnet, dass es eine „Klima-Katastrophe“ gibt und empfindet Gendern als „Blödsinn“.
Die Liste der radikalen Sprüche, die JWA klopft, ließe sich beliebig fortführen. Er hat kein Problem damit, Beziehungen zur AfD oder auch zur FPÖ zu pflegen. Dazu gibt es Videos, Fotos und Interviews wie beispielsweise mit dem rechten österreichischen Internetsender AUF1. Dort bezeichnete JWA die zwei Parteien einmal als „Fels in der Brandung“.
Wirth Anderlan übt sich in Selbst-radikalisierung. Das hört sich dann so an: Als Landeskommandant der Schützen sei man schon mal rechts; als er auf der Straße für die Freiheit demonstrierte, war er plötzlich rechtsextrem. „Sie sagen, wir sind rechtsextrem. Ich sage: Wir haben extrem recht.“
Die Methode ist immer die gleiche: Ablenkung durch Provokation, um Aufmerksamkeit zu erregen. Alles nur lustig gemeint? Krachende Lederhosen-Folklore, nichts weiter?
Doch so einfach ist das nicht. Anfang März trifft sich Jürgen Wirth Anderlan in Wien mit Martin Sellner. Sellner ist ein österreichischer Rechtsextremist, führender Kopf der europaweit vernetzten Neuen Rechten. Er war einer der Redner bei einem Treffen im vergangenen November in Potsdam, mit dabei waren mehrere Mitglieder der AfD, aber auch der CDU. Sellner sprach dort über Pläne zur massenhaften Vertreibung von Menschen mit Migrationshintergrund aus Deutschland. Er meint damit: Asylbewerber, Ausländer mit Bleiberecht, „nicht assimilierte Staatsbürger“, auch deutsche mit ausländischen Wurzeln. Sellners Schlüsselbegriff ist „Remigration“, ins Konkrete übersetzt ist das nichts anderes als Deportation.
Sellner erhielt nach dem Treffen ein deutschlandweites Einreiseverbot. Zuletzt hatte ihn die Polizei in der Schweiz bei einem geplanten Treffen von Rechtsextremisten vorübergehend festgenommen und dann des Kantons verwiesen.
Jürgen Wirth Anderlan stört das nicht. Er will Sellner trotzdem nach Südtirol einladen. „Wir sprechen über alles, mit jedem“, sagt er, und: „Ich habe mit Martin Sellner kein Problem, genau so wie Kompatscher mit Giorgia Meloni kein Problem hat.“ Klar, Sellner habe eine Vergangenheit, habe Fehler gemacht, sei vor Gericht gestanden. „Aber wenn wir von Remigration reden, dann ist er einer der Ikonen, die das umsetzen.“ Wenn jetzt öffentlich über ein Einreiseverbot für Sellner nach Südtirol diskutiert werde, kann sich der 53-Jährige nur wundern, er sagt dann Sätze wie: „Während jährlich Migranten, oft illegal, nach Südtirol strömen, soll einem migrationskritischen EU-Bürger die legale Einreise verwehrt werden?“
In einem Video auf den sozialen Medien setzt JWA dem noch eins drauf: Das System, sagt er dort, drehe jetzt total am Rad. „Deutschland hat beschlossen, Terroristen und Mörder dürfen weiter ins Land, außer du heißt mit Vornamen Martin. Und die Schweiz fängt an abzuschieben – Grundvoraussetzung ist der Nachname Sellner.“ Um so wichtiger sei jetzt das „lautstarke Denken, um denen da oben zu zeigen, was wir von globalistischer Zensur halten“. JWA wirft alles, was nicht zusammengehört, in seinen JWA-Mixer und rührt es zu einem giftigen Cocktail zusammen. Er banalisiert das Böse, er bereitet den Boden vor.
In seinem Buch „Regime Change von Rechts“ beschreibt Martin Sellner, wie ein solcher „Regimewechsel“ vonstatten gehen kann. Ziel sei es demnach, zunächst die Deutungshoheit im vorpolitischen Raum zu erobern, bevor man dann überhaupt nach der Macht greifen kann. Dabei bedient sich die Neue Rechte beim italienischen Kommunisten Antonio Gramsci, der Anfang des vergangenen Jahrhunderts festhielt, dass sich Machtwechsel nicht mehr durch Revolutionen, sondern durch ideologische Überzeugungsarbeit in der Gesellschaft vollziehe. Jürgen Wirth Anderlan ist der Kanalarbeiter des Rechtsextremismus. Martin Sellner ist der Stratege.
„JWA ist in diesem rechten, braunen Milieu zu Hause“, sagt Günther Pallaver, Politikwissenschaftler und emeritierter Universitätsprofessor. „Andernfalls würde er keine so regen Kontakte zu Parteien wie der FPÖ und der AfD pflegen.“ Es geht diesen Leuten um die Spaltung der Gesellschaft. „Politik“, sagt Pallaver, „ist Vermittlung. Durch diese Sprache aber geht diese Vermittlung verloren und die politische Kultur wird insgesamt vergiftet.“ Ein Martin Sellner verstoße mit seinen Worten und Handlungen gegen Menschen- und Grundrechte. Jeder, der Sellners Thesen mitvertrete, so Pallaver, verstoße ebenso gegen diese Rechte.
Jürgen Wirth Anderlan geht immer ein kleines Stück über die Grenze des Sagbaren hinaus. So verschiebt er langfristig den Diskurs. Seine Provokationen von gestern sind heute normal; was zuvor unsagbar war, wird real. So bereitet die sprachliche Verrohung der gesellschaftlichen Verrohung den Weg. Er selbst gibt das Unschuldslamm. „Ich spreche nur die Tatsachen an“, sagt er. Wenn er Begriffe verwende wie „Präsident für Stützstrumpfhosen“, gebe er nur seine Eindrücke wieder. Die Vorkommnisse in den bisherigen Sitzungen von Landtag und Regionalrat seien nun mal „eine totale Verhöhnung von jedem fleißigen Arbeiter“. Er spreche die Dinge auf seine Art an: „Ich rede, wie ich bin“, sagt er. „Ich war Skilehrer, dort habe ich die vielen Sprüche gelernt.“ Aber Wirth Anderlan ist heute kein Skilehrer mehr, sondern Landtagsabgeordneter.
Der Abgeordnete Paul Köllensperger reagiert lebhaft auf JWA: „Uns betitelt er als Sesselwärmer und Abkassierer. Aber seit er hier im Landtag ist, kassiert er selbst ab und macht: nichts. Seine parlamentarische Leistung ist gleich null.“ Wie sich mit so jemandem zusammenarbeiten lässt, diese Frage stellt sich für den Team K-Chef ebenso wie für viele andere Fraktionen im Landtag. „Im Plenar-saal oder an Diskussionstischen“, sagt Köllensperger, „kann man zur inhaltlichen Widerrede ansetzen, wenn sie mit populistischen Sprüchen daherkommen. Ihnen nachweisen, dass sie heiße Luft produzieren.“ Das Problem sei, dass es diese sachliche Widerrede in den sozialen Medien nicht gebe. „Politische Vertreter wie Wirth Anderlan fallen nicht durch konstruktive Beiträge zur Raumordnung oder zum Haushalt auf. Sie arbeiten mit Feindbildern und betreiben eine permanente Wahlkampagne.“
Viele Abgeordnete wollen gegen wilde, populistische Parolen mit Fakten und Inhalten vorgehen, auch wenn sie wissen, dass das schwierig ist. „Ich weiß nicht, was der richtige Umgang ist. Niemand weiß das“, sagt Brigitte Foppa. Die Grünen-Fraktionssprecherin erlebt Jürgen Wirth Anderlan einerseits verschüchtert, unsicher bei gewissen Abstimmungen. Er mache immer noch einen auf Welpenschutz. „Er spekuliert darauf“, sagt sie, „dass man es ihm nachsieht, wenn er keine Ahnung von der Geschäftsordnung oder der Gesetzesarbeit hat.“ Aber zumindest sie spiele da nicht mehr mit.
JWA setzt immer weiter auf gezielte Provokationen. Der Landtag dient dafür als Bühne. In einem Antrag im Landtag verlangt er, „Gendersprache“ in Politik und Behörden zu verbieten. Aber es gibt in Südtirol keine Regelungen zur gendergerechten Sprache, also kann man sie auch nicht verbieten. JWA hat drei Gesetzesinitiativen präsentiert. Seit zwei Monaten liegen sie in allen Gemeinden im Land auf und können unterschrieben werden: für das Recht auf Bargeld, für das Recht auf Eigenanbau von Lebensmitteln, und gegen die Gendersprache. Weder Bargeld noch das Anbauen von Gemüse in Südtirol ist verboten. Auch gibt es keine Verpflichtung im öffentlichen Sprachgebrauch zu gendern. „Wir wollen uns mit solchen Initiativen ab-sichern“, sagt JWA. Es sei eine „vorausschauende“ und „präventive“ Geschichte. Nicht mehr, nicht weniger.
Die Dramaturgie ist einfach und oft dieselbe: Er behauptet etwas, von dem er weiß, es wird bei Medien und politischen Kollegen einen Sturm der Empörung auslösen. Damit steht er im Mittelpunkt. Mit seinen Videobotschaften und öffentlichen Aussagen sendet er ein Signal an jene Wählerschaft, die er braucht: das Wutbürgertum.
Immerhin 78 Prozent der JWA-Wähler gaben als ausschlaggebenden Grund ihrer Wahl an: Protest gegenüber der Politik der Landesregierung. 36,1 Prozent der JWA-Stimmen stammen von ehemaligen SVP-Wählern, 17,5 Prozent aus dem Team K-Umfeld; und ganze 16,7 Prozent waren in Vergangenheit Nichtwähler.
Von allen angetretenen Parteien hat JWA die jüngsten Wähler: Durchnittsalter 46 Jahre. „JWA steht für den allgemein herrschenden Individualismus“, sagt Günther Pallaver. Ganz nach dem Motto: Ich lasse mir von niemandem etwas vorschreiben; ich sage und mache, was ich will. „Man darf nicht vergessen: Es gibt eine große Wut auf die politische Klasse. Das nutzt JWA aus. Je lauter und deftiger er das tut, umso authentischer ist er bei seiner Wählerschaft.“ Dabei beruft sich der Kalterer auf den Willen des Volkes oder den gesunden Menschenverstand. „Die politischen Rechten“, sagt Günter Pallaver“, „sprechen immer davon, dass sie das wahre Volk vertreten. Das ist eine Fiktion.“ Mit 5,9 Prozent der Wählerstimmen könne man nicht für sich beanspruchen, das Volk zu vertreten.
Selbst Landeshauptmann Arno Kompatscher wurde es jüngst im Plenum des Landtages zu bunt. In einer Wortmeldung kritisierte er diese Wir-sind-das-Volk-Haltung von JWA und stellte klar, dass keine Partei allein für sich behaupten könne, das Volk zu repräsentieren: „Wir hatten erst vor Kurzem Wahlen und hier sitzt eine Regierung, die von einer Mehrheit getragen wird.“ Und auch SVP-Obmann und Landesrat Phi-lipp Achammer teilte aus. Er hoffe, sagte er zu Wirth Anderlan, „dass wir Sprache hier im Landtag sensibler verwenden“. Und über Ideologien sollte man sich dann Gedanken machen, „wenn man bekennende Rechtsextremisten trifft“.
Wirth Anderlan sitzt in seinem Büro im obersten Stock des Landtages, an einer Wand hängt eine Szene aus dem Leben von Andreas Hofer. Es ist ein Vormittag Mitte März und es herrscht viel Betrieb bei der JWA-Fraktion. Immer montags von 7.30 Uhr bis 11 Uhr halten die zwei Landtagsabgeordneten Bürgersprechstunde. „Unser Ziel ist es“, sagt JWA, „dass wir in fünf Jahren sagen können: Wir haben etwas weitergebracht für unsere Heimat.“ Beschlussanträge und Anfragen hält er für nicht zielführend, die seien nur da, „das mediale Interesse zu wecken“. Man suche lieber das direkte Gespräch mit den Mitgliedern der Landesregierung. So habe man schon einige Probleme lösen können.
Er, er fühle sich nicht als Politiker, sondern als Volksvertreter. Und seine Fraktion sei weder Opposition noch Regierung, man sei „eine Gruppe in sich“. JWA verwendet die Begriffe, wie es ihm passt. So trägt er seine Sicht auf die Welt in die gesellschaftliche Mitte hinein.
„Ich fühle mich auf der Straße immer noch am wohlsten“, sagt er, betont aber auch, dass es wichtig sei, Teil des politischen Systems zu sein, „um aufzuzeigen, was im System falsch läuft“. Wenn man etwas kritisiert, solle man versuchen, es besser zu machen. „Das Ziel ist immer, für die Heimat zu arbeiten. Diesen Weg werden wir weitergehen.“
Was herauskommt, wenn Rechtspopulisten sich um die Heimat kümmern, weiß man aus der Geschichte.
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