Außensicht

Neuer Roman von Sepp Mall: Alles schon gewusst?

Aus ff 38 vom Donnerstag, den 21. September 2023

Selten habe ich ein Buch nach der Lektüre so erfüllt beiseitegelegt wie das jüngst erschienene „Ein Hund kam in die Küche“ von Sepp Mall. Es ist ein Roman, und ich nenne es Lehrbuch, was kein Widerspruch sein will, sondern ein Geständnis. Denn anrührender und gleichzeitig vollständiger kann man den behandelten Gegenstand nicht gelehrt bekommen. Es geht um „die Option“ und die Umstände drum herum.

Alles darüber schon gelesen, höre ich’s jetzt rauschen. Stimmt aber nicht. So haben wir es noch nicht gelesen. Sepp Mall erzählt „nur“, er lehrt nicht. Auch andere Autoren, die sich an Südtirols empfindlichster Geschichtswunde abarbeiten, haben das in Roman-, also Erzählform versucht, aber … Aber dem Vinschger Mall gelingt das echter. Ich getraue mich zu sagen: Es gelingt ihm vollkommen, weil er dafür die innigste aller Erzählformen wählt, und das ist die des Kindes.

„Von Kindern und Narren kannst die Wahrheit ertappen.“ Ist so ein derber Spruch, den ich aus meiner Kindheit hab, und als wär Sepp Malls Buch der Beweis dafür. Dank dem wachen Ludi und seinem „zurückgebliebenen“ Bruder Hanno habe ich jetzt das Gefühl: Ich weiß, was war. Die Buben sagen nicht viel, Hanno bald gar nichts mehr, denn als „unwertes Leben“ wird er Opfer des Euthanasieprogramms der Nazis und redet nur in Ludis Traumwelt weiter. Ich versteh jetzt die Naturgewalt von Müttern; die Kaputtheit der Männer im Krieg, die nie mehr ganz heimfinden; Menschen, die sich Anstand schlicht nicht leisten können. Wohin man sieht, es gibt nur Opfer. Und dahinter, unsichtbar, aber unentrinnbar wirksam der Mordapparat der Nazis.

Manche, höre ich, finden Malls Geschichte rührselig. Wenn’s stimmt, muss ich Mall zu seinem Mut dazu gratulieren. Er setzt dem Roman ein Geleitwort von Novalis voran. Mir fällt dazu vom gleichen Romantiker der Vers ein: „Wenn nicht mehr Zahlen und Figuren / Sind Schlüssel aller Kreaturen, / Wenn die, so singen oder küssen, / Mehr als die Tiefgelehrten wissen …“

Ja dann? Dann lernen wir das Leben bei Dichtern wie Sepp Mall.

von Florian Kronbichler | Journalist, ehemaliger Chefredakteur der ff

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