Außensicht

Senioren: Alters-ADS

Aus ff 38 vom Donnerstag, den 21. September 2023

Der Volksmund sagt, alte Menschen werden wieder wie Kinder. Unselbstständig, starrsinnig, auf Hilfe angewiesen. Der Wahrheitsgehalt dieser These sei dahingestellt. Was ich in meinem Umfeld allerdings immer öfter feststelle, ist ein anderes Phänomen: Die Senioren entwickeln – ganz unabhängig von ihrer körperlichen und geistigen Fitness – eine Art Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom (ADS).

Die Diagnose, die (nicht nur) Eltern und Lehrern aufgrund ihrer inflationären Verwendung einen Schauer über den Rücken jagt, scheint sich bei den Alten steigender Beliebtheit zu erfreuen. Wahrscheinlich handelt es sich um einen Schutzmechanismus. Dass die Bullshit-Toleranz mit zunehmender Lebenserfahrung sinkt, ist so normal wie verständlich. Man hat weder die Lust noch die Zeit, selbige mit Liebesdramen, Diskussionen oder Karriereplänen zu vergeuden. Der Spruch „Hauptsache, g’sund!“ wird gegen Lebensabend ja ohnehin beunruhigend real. Da hat man keine Lust mehr, sich mit oben genanntem Kleinkram herumzuschlagen. Dann fordern auch noch Handy und Internet ständig unsere Aufmerksamkeit ein – unsere moderne Welt ist ganz schön laut. Und während wir „Jungen“ Achtsamkeitsseminare besuchen und Resilienz-Posts 25-jähriger Influencer lesen, sind unsere Eltern gescheiter und schalten einfach auf Durchzug.

Ansteckend scheint es auch zu sein, dieses Alters-ADS. Eine Tante hat es bereits. Mein Vater hat schon lange erste Symptome. Und Oma Nena tut überhaupt nur mehr, was ihr passt – und gibt dabei niemandem mehr „an Achte“, wie wir so schön sagen. Was soll ich sagen, Oma Nena rockt. Ich werde mir im Alter auch den Luxus leisten, meine Aufmerksamkeit nur mehr sparsam zu dosieren – oder gar nicht mehr zu verschenken. Allein dieses Wort zeigt doch, wie wertvoll sie ist, unsere Aufmerksamkeit.

von Bettina Conci | Schreibt Kolumnen, Kurzgeschichten, Kindgerechtes und Kontroverses

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