Außensicht

Wahlberichterstattung: Aus dem Stand

Aus ff 25 vom Donnerstag, den 20. Juni 2024

Wahlberichterstattungen haben etwas gemeinsam mit Liturgie. Beide bedienen sich einer ewig gleichen Sprachregelung. Gleicher Floskeln, wäre treffender gesagt. Wahlberichterstattungen sind Anhäufungen von Gemeinplätzen, und wenn es erst zur Einschätzung von Ergebnissen kommt, münden Banalitäten gern in Dummheiten.

Eine bei sogenannten Wahlbeobachtern besonders beliebte und bei der jüngsten Wahl zum Europaparlament wieder ausgiebig zur Wirkung gebrachte Dummheit war die Floskel: „aus dem Stand heraus“. Diesmal war es die neue Partei der deutschen Links-Abweichlerin Sarah Wagenknecht, die es „aus dem Stand heraus“ auf 6,2 Prozent brachte. Wer immer die Formel erfand, sie muss für Wahlberichterstatter von solcher Unwiderstehlichkeit sein, oder, um es mit dem Dichter zu sagen, es wohnt ihr derart „ein Zauber inne“, dass sie von Wahl zu Wahl mit steigender Inbrunst fortgeplappert wird.

Zur Verleihung des „Aus-dem-Stand“-Attributs reichen zwei Voraussetzungen: Die Partei oder wahlweise der Kandidat muss aus dem Nichts kommen, also Anfänger oder – wie neuerdings sehr beliebt – Quereinsteiger sein, und der Anfangserfolg muss beachtlich, Tendenz: besser als erwartet sein. Dann vergibt der Kommentator den Titel: „aus dem Stand heraus erreicht …“. Der Wertung schwingt dann ein Hauch von Überraschung und Bewunderung nach.

Na und? Warum sollen Wahlberichterstatter sich nicht wundern dürfen und staunen über ein Besser-als-Gedacht? Sind sie deswegen dumm? Sind sie nicht. Sie sollten nur nicht die Illusion verbreiten, die der Ausdruck suggeriert. Der Erfolg trat nicht ein, „obwohl“ die Partei, der Kandidat zum ersten Mal antrat, „aus dem Stand“, oh nein, er gewann, „weil“ er neu, unverbraucht, vielleicht gar unbekannt war.

Das nächste Mal, garantiert, wird’s schlimmer. Siehe Grillini, siehe Team Kölle, siehe fast alle. Durchhalten ist schwerer als einsteigen. Die Wahlberichterstatter vergessen das. Sie leben von Neuigkeiten. Und überschätzen diese.

von Florian Kronbichler | Journalist, ehemaliger Chefredakteur der ff

Leserkommentare

Kommentieren

Sie müssen sich anmelden um zu kommentieren.