Außensicht

Carlo Levi: Verstehen wir Deutschland?

Aus ff 10 vom Donnerstag, den 06. März 2025

Gern hätte ich an jenem 23. Februar den deutschen Wahlabend von der ersten Hochrechnung bis zum Endergebnis mitverfolgt. Ging aber nicht. Sonntagnachmittag, als in Deutschland noch lang gewählt wurde, bestieg ich in Tokyo das Flugzeug und blieb nachrichtenlos, bis ich in Mailand landete. Da war es Montagfrüh um halb 8, und das Wahlergebnis fast schon alt. Ich war überholt. Aber ich wurde dafür sehr beziehungsreich entschädigt.

Auf dem langen Nachtflug las ich ein Büchlein, das mir im Nachhinein Bestätigung und Erklärung des Wahlergebnisses war. „Die doppelte Nacht“ ist der Titel. Der Autor, Carlo Levi, italienischer Antifaschist von einiger Berühmtheit, beschreibt darin „eine Deutschlandreise im Jahr 1958“. Darauf aufmerksam gemacht hat mich der deutsche Journalist und Historiker Gustav Seibt, den ich hoch schätze. Er schrieb in einer Rezension: „Wer Deutschland verstehen will, muss mit diesem Buch beginnen“. Die „Deutschland­reise“ eines Italieners von vor 67 Jahren lesen, um das Deutschland von heute zu verstehen? Das machte mich neugierig.

Levis Reise führt in ein schwer kriegsversehrtes Land, das wie wild im Wiederaufbau begriffen ist und in seine Wirtschaftswunder-Ära eintritt. Der Ästhet reist mit dem für gebildete Italiener typisch gespaltenen Deutschlandbild. Dem bewundernden für das Land der Dichter und Macher und gleichzeitig dem argwöhnenden gegenüber seinem latent gewaltbereiten Nazi-Wesen. Der Reisende streift durch Münchner Bierkeller, zieht über süddeutsche Fachwerk- und Barockstädtchen bis ins – für ihn – hässlich restaurierte Stuttgart, Köln geht noch, und dann kommt er nach Berlin.

Hier steht noch keine Mauer (die kommt erst 1961), aber der feinsinnige Levi spürt überall schon Trennung. In den Menschen vor allem. Deutschland, Zentrum Europas, der Protagonist einer globalen Krise. „Faustisch!“, findet Carlo Levi. Zu bewundern, aber im Zweifel doch stets zu fürchten. Ein Deutschland nach dieser Wahl.

von Florian Kronbichler | Journalist, ehemaliger Chefredakteur der ff

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