Außensicht

Chemtrails: Über den Wolken

Es gibt einen Mythos, der sich hartnäckig hält, in Schulklassen und Parlamenten, und er geht so: Es gibt keine dummen Fragen, nur dumme Antworten. Wer das ernsthaft denkt, hat kein Kind großgezogen und noch nie Zeit auf Facebook verbracht, wo gedankenloses Rätseln das Fundament jeder Debatte ist. Die bunten Schnörkel inklusive: Verursacht 5G-Strahlung Krebs? Ist die Masern-Impfung Gift? Sind Flugzeug-Kondensstreifen chemische Waffen? Man wird ja wohl noch fragen dürfen, sagen die kritischen Geister, und man darf, so wie man generell selten daran gehindert wird, sich öffentlich zu blamieren.

Und damit zu Jürgen Wirth Anderlan, ein zum Landtagsabgeordneten geronnener Facebook-Kommentar, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, aus dummen Fragen ähnlich dumme Anfragen zu basteln. Jüngst wollte er von der Regierung schriftlich wissen, was sie über „künstliche chemische Substanzen“ in der Luft sagen könne, er habe da nämlich etwas gehört von „Chemtrails“ und „­Geoengineering“ – und was er hört, trägt er weiter, ohne Netz und Filter. Verschwendet er absichtlich unsere Zeit? Nein, sagt er, er sei nun mal ein „Volksvertreter“ mit der Aufgabe, „Dinge aufzuklären, wenn etwas an uns herangetragen wird“.

Nun zweifle ich keine Sekunde daran, dass der Bärtige die Wahrheit spricht: Es wird mit Sicherheit Menschen geben, die ihm solche Fragen stellen, auf dass er damit den Landtag martert. Auch Don Quichotte dürfte eine Gruppe engagierter Fans gehabt haben, die ihn darum baten, endlich die große Windmühlenverschwörung aufzuklären – nur „das Volk“ waren sie nicht, eher das Rauschen in seinem Kopf. Und je häufiger Politiker wie JWA behaupten, die Sorgen der kleinen Leute aufzugreifen, desto mehr beweisen sie, wie entrückt sie von diesen sind.

Teures Wohnen? Soziale Gerechtigkeit? Reformstau und Bürokratie? Themen, in denen ein kritischer Geist gut stochern könnte, hätte er das Ohr tatsächlich am Bürger. Kein Mythos, sondern Wahrheit: Es gibt kein größeres Privileg als den Kampf gegen einen imaginären Feind. Nur wer keine Probleme hat, kann es sich leisten, welche zu erfinden.

von Anton Rainer | Stellvertretender Leiter des Ressorts Kultur beim Spiegel in Hamburg

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