Das neue Buch von Roberto Esposito lädt dazu ein, ein Erbe kritisch zu überdenken, das noch immer unsere Gegenwart prägt.
Außensicht
Neid-Debatten: Mehr vom Kuchen
Aus ff 41 vom Donnerstag, den 09. Oktober 2025
Neid, das lernt man als Südtiroler früh, ist ein Gefühl, das sich nicht gehört. Es macht alt und runzlig, wird nicht gespürt, sondern „geschürt“, wie Feuer im Kachelofen. Und wer es als Südtiroler geschafft hat, trägt die Botschaft umso lauter vor sich her. „Ich kann mit Neiddebatten nie was anfangen“, sagt Millionär Markus Lanz. „Ich habe Mitleid mit den Neidern“, sagt Multimillionär Georg Kofler. Und beide haben recht: Neid ist doof, vor allem wenn man viel mehr verdient als 99 Prozent der Menschheit. Für alle anderen aber ist Neid, nach oben gerichtet, die vielleicht produktivste aller Emotionen: Nur wer mehr vom Kuchen will, hat die Chance auf ein paar Krümel.
Umso trauriger, wie tief sich die Anti-Neid-Lobby in unsere Hirne eingefressen hat. Ende September wurde der Domplatz in Brixen zum Parkplatz für reiche Ferrari-Besitzer umfunktioniert. Nebenan beteten Gläubige in der Pfarrkirche für arme Kinder in Afrika, es waren Szenen wie bei Schlingensief, dem verstorbenen Regisseur, aber viele Nicht-Millionäre in den Facebook-Kommentaren konnten die Aufregung nicht verstehen. Nur „neidzerfressene Kleingeister“ würden ein solches Event kritisieren, hieß es da, und die zuständige Tourismus-Stadträtin nannte den Millionärsaufmarsch unschuldig ein „rollendes Museum“. Stimmt schon, nur dass die Exponate allzu menschlich waren.
Soll man da neidisch sein? Man kann gar nicht anders. Neid ist keine Todsünde, sondern Symptom einer höchst ungleichen Gesellschaft. Ohne Neid keine Gewerkschaften, keine progressive Einkommenssteuer, kein Mindestlohn. Ohne Neid würden Südtirols Lehrer immer noch nach Österreich blicken und denken: „Tja, muss ich wohl ein paar Zehntausend Euro schlechter sein als die Kollegen.“
Ohne Neid auf die Privilegien des Adels wäre Frankreich heute noch eine Monarchie. Stattdessen kam die Revolution, getrieben von unüberbrückbar gewordener Missgunst gegenüber einer Klasse, die nach Jahrhunderten des Wegschauens (Brot?) und Wegredens (Kuchen!) keine glutenfreie Ausflucht fand. Was wohl Königin Marie Antoinettes letzte Gedanken waren, als das Fallbeil ihren Nacken kitzelte? „Ach“, wird sie geseufzt haben, „immer diese Neiddebatten.“
von Anton Rainer | Stellvertretender Leiter des
Ressorts Kultur beim Spiegel in Hamburg
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