Flaneid

Notlügen in Notlagen

Aus ff 16 vom Donnerstag, den 16. April 2020

Für eine erste Lockerung der Corona-Einschränkungen gab die Gemeinde gleich eine ganze Branche frei. Der Jubel war einstimmig.

Der Ostermontag war noch schlimmer. Für den Ostersonntag lieferte die neue Situation die Ausrede, nicht zur Messe zu müssen. Weihnachten, Ostern und Herz Jesu waren für Olga Klotz, die regierende Vizebürgermeisterin, immer Pflichttermine. Das Volk erwartete, dass die Politik sich dort zeigte. Für den Ostermontag erwartete sie sich, wie auch das Volk, freie Fahrt. Sie war das so gewohnt: eine Fahrt ins Berggebiet, eine kurze Wanderung – zirka zwei Zigarettenlängen – bis zum Berggasthof und dann der Braten. An diesem Montag fiel der Berg ins Wasser. Was ihr noch blieb, war der kurze Gang zum eigentlich geschlossenen Gasthaus ­Unterganzner, wo sich der Gemeindeausschuss täglich traf, trotz Verbot und Bürgermeister, der daheim vor dem Virus zitterte und es bisher nicht geschafft hatte, sich in die Videokonferenz, die ihm vorgegaukelt wurde, einzuschalten.

„Mehr gibt’s nicht“, antwortete Wirt Coelestin Unterganzner, als er Sozialassessorin Milli Minder einen Tee hinstellte. Er war auch nicht bester Laune, aber durch diese heimliche Bewirtung hatte er wenigstens die Sündenböcke vor Augen, vor denen er Dampf ablassen konnte. „In Österreich sperren sie gleich auf“, sagte er, „und was tut ihr?“ „Dafür sind der Staat und das Land zuständig“, gab Finanzassessorin Hedwig Helfer zu bedenken, „wir können vor dem Volk nicht so tun, als könnten wir entscheiden.“ Unterganzner bestand drauf: „Wieso nicht? In Notlagen sind Notlügen moralisch durchaus zulässig.“

„Hast auch wieder recht“, sagte Klotz gefasst, noch während Helfer um eine Antwort rang. „Gesetzt den Fall, wir könnten, was sollten wir tun?“, fragte sie. „Ja, aufsperren lassen!“, antwortete er. „Moment“, wandte Minder ein, „du weißt schon, dass das nur gestaffelt nach Branchen geht, und du kämst da ganz zuletzt dran, wegen direktem Kundenkontakt ...“ Unterganzner fuhr mit seinem Handschuh auf seine Schutzmaske, ließ das Argument aber dann fallen: „Hauptsache, ihr fangt irgendwo an. Wenn ihr länger wartet, dann komme ich noch später dran.“ „Hast du auch wieder recht“, wiederholte Klotz.

Sie teilte dem Ausschuss mit, dass ihr Beisammensein ab nun eine offizielle Sitzung war und bat um Vorschläge.

„Wir müssen auf jeden Fall bei den Betrieben anfangen, zu denen die Leute nicht unbedingt hin wollen“, meinte Minder, „ein Gasthaus hat zu viel Andrang.“ „Zahnarzt“, schlug Helfer vor. „Haben wir keinen“, sagte Klotz. „Finanzamt?“, fragte Helfer. „Haben wir keinen Einfluss drauf“, antwortete Klotz. Nach einstündigem Abwarten und Teetrinken sagte sie schließlich: „Mir fällt schon etwas ein.“

„Frau Klotz, mir ist da etwas zu Ohren gekommen von einer öffentlichen Versammlung auf dem Hauptplatz“, meldete sich Ernst Putz, Flaneids strengster und einziger Gemeindepolizist, per Telefon, „das geht nicht, das muss ich unterbinden!“ „Du bist auch dabei“, antwortete sie, „aber als Vertreter des Gemeindepersonals, also gewerkschaftlich, nicht dienstlich. Du kommst in Zivil.“

Nachdem die rechtlichen Fragen geklärt waren, fand die Versammlung statt. Je ein Vertreter pro Branche, im Abstand von drei Metern, vermummt und handschuhbewehrt. Klotz schritt in die Mitte: „Den Anfang macht … macht …“ – sie machte eine Pause und zeigte dann auf den Auserwählten – „der Sepp!“

Sepp Lederer, Flickschuster, verfiel nicht in Begeisterung. Er war, obwohl schon lange in Pension, sowieso täglich in seiner Werkstatt, weil seine Frau daheim war. Die paar Kunden, die er im Jahr hatte, bediente er des Ratschers, nicht des Geldes wegen. Dennoch brandete Applaus auf. Es war ein Hoffnungszeichen. Und Klotz sah sich in ihrer Überzeugung bestätigt, dass von der Politik Taten erwartet wurden.

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