Flaneid

Der schwarze Kalender

Aus ff 07 vom Donnerstag, den 18. Februar 2021

Die Flaneider taten ihren Unmut über die Beschränkungen kund, künstlerisch beziehungsweise demokratisch. Was es genau war, musste noch geprüft werden.

Und fünf uuund sechs.“ „Gut. Und jetzt noch einen Strich schräg über das Ganze.“ Coelestin Unterganzner musterte zufrieden die Fassade seines Gasthauses: Sechs senkrechte schwarze Striche für die Werktage und einen Schrägstrich für den Sonntag – das verstand jeder. Und das sah jeder, weil es groß genug war. Er nahm dem Ziggl-Franz Farbe und Pinsel ab und überreichte ihm einen Gutschein für fünf Glas Roten, einzulösen, wenn das Gasthaus wieder öffnen durfte. Momentan war es nur inoffiziell offen, für den Gemeindeausschuss – ohne Bürgermeister, der sich daheim vor dem Virus versteckte – und andere Dorfgewaltige, sodass Unterganzner die Dorfpolitik im Auge behalten konnte.

„Was ist das da auf der Hauswand?“, fragte Kaufleuteobmann Helmuth Kramer. „Warst du nie im Gefängnis?“, fragte Unterganzner zurück. „Ich? Nein!“ „Und im Fernsehen? Nie so etwas gesehen?“ „Aaaah“, schaltete Kramer, „so merken sich die Knastbrüder, wie lange sie schon sitzen.“ „Genau. Und wie lange sind wir schon eingesperrt?“ „Tolle Idee“, war der Kaufmann beeindruckt.

Es dauerte nicht lange, dann zeugte auch Kramers Souvenirladen von der angeblich alternativlosen Schwere des menschlichen Daseins in Zeiten der Seuche. Dann folgten weitere Häuser. Das heraldische Zeichen der Eingekerkerten verbreitete sich in Flaneid mit einem gefühlten RT-Wert von 1,7. Hausreihen wurden zu Anklagemauern gegen die Politik: So lange sitzen wir schon, und ihr habt uns eingesperrt.

Olga Klotz, die regierende Vizebürgermeisterin, erkannte den Ernst der Lage, schickte aber den Bürgermeister vor. Daniel Grüner, von Klotz informiert, rief seinerseits Unterganzner an: „Lasst das. Das ist wahrscheinlich verboten.“ „Und mit welcher Ausrede, äh, rechtlichen Begründung willst du mir das verbieten?“, fragte Unterganzner. Grüner legte auf und rief den Gemeindesekretär an: „Kann man das nicht über das neue Raumordnungsgesetz verbieten?“ „Möglich, aber das kennt noch keiner.“ Jetzt rief Grüner wieder Unterganzner an: „Ihr habt mit Strafen zu rechnen. Sobald wir den entsprechenden Artikel im Urbanistikgesetz gefunden haben, werden wir…“ „Das hat nichts mit Urbanistik zu tun, das ist Kunst am Bau“, ließ sich der Wirt nicht beeindrucken, „bei öffentlichen Bauten ist das Pflicht, also wird es bei privaten nicht verboten sein.“ „Das ist keine Kunst!“ „Beweis es!“

Grüner schickte eine Fachkommission an den Tatort, bestehend aus Otto Stifter, Zeichenlehrer in der Mittelschule, Annemirl Strauß von der Flaneider Aquarellistenliga und Gemeindearbeiter Fritz Kerer, der sich mit Straßenmarkierungen auskannte. Die Kommission kam zum Schluss, dass es eine schwierige Frage war. „Eine schwierige Frage ist keine Kunst“, sagte Grüner und teilte Unterganzner das Ergebnis mit.

Unterganzner kaute gemütlich an seinem Zahnstocher und ließ Grüner toben. Dann kam er mit einer neuen Variante: „Das ist eine freie Meinungsäußerung. Dagegen kannst du mit deinen Paragrafen nicht anrennen. Es ist das Zeichen der Häftlinge, der Eingesperrten wie wir.“

Jetzt konnte nur mehr der Himmel helfen, dachte Grüner im ersten Moment und rief im zweiten Pfarrer Elmar Kaslatter an. „Ich kann schon versuchen, mit dem Coelestin zu reden, aber ich kenne da einen Gefängniskaplan, der …“

Kaplan Gatterer schritt die Fassaden am Hauptplatz ab, flankiert von Grüner und Unterganzner, die beide versprochen hatten, sich dem Urteil des Geistlichen zu beugen. „Das ist schon das Häftlingszeichen, gell?“, suchte der Wirt nach Bestätigung. „Äh, nein. Die Form stimmt, aber die Häftlinge kratzen ihren Kalender innen an die Wände, nicht draußen.“

Damit war der Grundstein für einen langen Rechtsstreit gelegt.

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