Flaneid

Die Farbe Rot

Aus ff 21 vom Donnerstag, den 27. Mai 2021

Niemand kannte sich mehr aus, Verunsicherung herrschte, Unlust griff um sich. Die Gemeinde setzte daher ein neues Zeichen der Hoffnung.

Halt, Passkontrolle!“ Am Dorfeingang stand ein neues, Ehrfurcht gebietendes Schild. Davor aufgebäumt hatte sich Ernst Putz. Für den ranghöchsten und einzigen Gemeindepolizisten von Flaneid war es die erste Gelegenheit, eine Passkontrolle vornehmen zu dürfen. Bewaffnet mit Kelle und Pfefferspray, den ihm der Gemeinderat nach ausgiebiger Beratung als Dienstwaffe zuerkannt hatte, stand er da und harrte der ersten Touristen. Er würde es auch nicht versäumen, ihnen nach erfolgter Kontrolle des Europäischen Grünen Passes – für Geimpfte, Genesene und Wiederauferstandene – noch -„schönen Aufenthalt in Flaneid“ nachzurufen.

„Der vertreibt uns die Touristen!“, entsetzte sich Wirt Coelestin Unterganzner, als er von der neuen Kontrollstation erfuhr. Der Innenbereich des Gasthauses Unterganzner war offiziell geschlossen, aber die Hintertür für Dorfhonoratioren offen. So konnte der Wirt die Dorfpolitik im Auge behalten, während Kellnerin Kathi den Außenbereich versorgte. Dieser war zurzeit recht gefragt, da viele Flaneider keine Lust aufs Testen hatten und die deutschen Gäste sowieso im Freien speisen wollten, sobald Mai im Kalender stand – deswegen ließen sie sich auch nicht vom Pfingstwetter abschrecken.

Olga Klotz, regierende Vizebürgermeisterin, griff zum Handy: „Putz, du nimmst da jetzt sofort die Tafel weg.“ Sie erklärte ihm, dass sein Tun rechtlich keinen Boden hatte, wirtschafts-mäßig schädlich war und ihm die Versetzung in die Bergfraktion Kipf drohte. Bis zu drei „Aber“ ließ sie ihn reden, dann wurde sie präzise: „Tafel weg, sonst Kipf!“ „Wäre auch für die Katz gewesen“, kommentierte Schützenhauptmann Karl Treffer, „kein Deutscher lässt sich von einer Grenze aufhalten, wenn er einmal die Koffer gepackt hat.“

„Wenigstens ein Problem wäre gelöst“, sagte Klotz, nachdem sie Grenzkontrolleur Putz in die Schranken gewiesen hatte. Der Rest des Gemeindeausschusses – ohne Bürgermeister, der sich immer noch daheim vor dem Virus fürchtete und von den Geheimtreffen nichts wusste – sah deswegen nicht zufriedener drein. Das größere Problem war die schwindende Testfreude der -Flaneider. Sie waren mit dem Außenbereich der Gasthäuser zufrieden und vertrauten darauf, dass sich die Regeln eh dauernd änderten und dass irgendwann alles offen war. Dabei hatte die Gemeinde die Teststrecke mit viel Mühe und Freiwilligen eingerichtet und wollte deswegen auch als Rekordgemeinde in die Geschichte eingehen. Anfangs hatte sogar der Bürgermeister beim Nasenbohren geholfen.

Es herrschte ein Durcheinander. Einige kamen nicht zum Test, weil sie bereits geimpft waren. Andere lehnten den Grünen Pass ab, so wie Karl Treffer, weil der italienische Pass auch grün war. Bauernobmann Emil Harasser hingegen hänselte Treffer mit der Behauptung, er habe den Doppelpass: den italienischen und den Giftpass.

Es wurde eine inoffizielle Dringlichkeitssitzung in der hinteren Zirmstube des Unterganzner einberufen. Während Theresia Wiedersacher von der Opposition aus einem Gewohnheitsreflex den Rücktritt des Bürgermeisters forderte, verließ die Mehrheit geschlossen den Saal, um am Budel den neuen Cuvee der Kellereigenossenschaft zu testen, und ließ auf den Bürgermeister aufschreiben. „Wir haben dir den Arsch gerettet“, teilte ihm Max Minder, Obmann der regierenden Bürgerliste Harpf, telefonisch mit.

Gelöst war aber immer noch nichts.

Olga Klotz weihte Ernst Putz in die Lösung ein. Vor dem Testlokal wurde eine rote Ampel aufgestellt. „Das animiert die Leute zum Nasenbohren“, erklärte ihm Klotz, schärfte ihm aber auch die neuen Regeln der Verkehrsordnung ein: „Rot heißt Weiter, nicht Halt!“ Putz verstand die Welt nicht mehr.

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