Flaneid

Die Prioritätenliste

Aus ff 46 vom Donnerstag, den 18. November 2021

Ist das Leben das oberste Gut? Oder die Freiheit? Die Gesundheit? Der Flaneider Ethikrat wurde unsanft auf eine Lücke im Konzept gestoßen.

Es geht aufwärts“, sagte Sozialassessorin Milli Minder beim Zeitungslesen. Coelestin Unterganzner, der Wirt, kontrollierte, ob Minder die Wirtschaftsseite las. Nein, es war die tägliche Corona-Statistik. „Diese Panikmache!“, ärgerte sich Unterganzner. „Was ist, ist“, erwiderte Minder. „So macht ihr mir die Wintersaison kaputt!“, schimpfte Unterganzner. „Wir? Der Virus!“ „Aber ihr leistet schon auch euren Beitrag. Zum Beispiel die Null Promille auf der Skipiste. Wenn die Skihütten nicht offenlassen können, dann fährt ja niemand hinauf. Ohne Promille kriegst du bei der Abfahrt nie diese schönen Kurven zusammen.“ „Das hat Rom entschieden.“ „Ja, ja, Rom. Und die reden sich auf den Papst hinaus und der auf den Herrgott.“ „Ohne Herrgott hättest du auch keinen Schnee.“ Bevor das Ganze zum philosophisch-theologischen Seminar ausartete, ging Unterganzner wieder hinter den Budel, um Gläser zu trocknen. Und Minder setzte sich zwei Tische weiter, wo der Flaneider Ethikrat seine konstituierende Sitzung abhielt.

„Das wichtigste ist die Gesundheit, sag’ ich immer“, sagte, wie immer, Pfarrgemeinderatspräsidentin Rosl Kranz, die auch Vorsitzende des Rats war. Bei der ersten Sitzung ging es darum, die obersten Werte festzulegen, nach denen sich die Gemeinde in ihren Pandemiemaßnahmen zu richten hatte. Falls ihr welche zustanden. Der Rat stand seinerseits unter strenger Beobachtung, in diesem Fall durch Bürgermeister Daniel Grüner, der an einem anderen Tisch mitlauschte. Er war stolz darauf, den Rat vorgeschlagen zu haben, und noch mehr froh darüber, dass er im Gemeindebeschluss unbemerkt das Wortpaar „beratende Funktion“ untergebracht hatte. Die konnten beschließen, was sie wollten, entscheiden tat er. Wenn es nicht das Land vor ihm getan hatte. Oder Rom, der Papst, der Herrgott.

„Noch wichtiger ist das Leben, denn ohne Leben kann man nicht gesund sein“, sagte Lehrerin Hedwig Zehnleser, die als Vertreterin der Impfskeptiker in den Ethikrat entsandt und dort in die Opposition verbannt wurde, „und derzeit ist das kein Leben nicht.“

Sie hatte laut demokratischen Spielregeln das Recht, dies zu sagen, aber nicht, dass man ihr auch zuhören musste. Und so forschte der Rat weiter, ob noch weitere ethische Prioritäten zwischen den Aerosolen in der Luft lagen.

Coelestin Unterganzner gehörte nicht zur illustren Runde, nutzte aber das Servieren von fünf Kräutertees, um seinen Beitrag zu leisten: „Am wichtigsten ist, dass wir jetzt die Wintersaison retten.“ Der Versuch, schnöden Mammon in die Diskussion einzubringen, löste beim hohen Rat einen Moralinschub aus, sodass alle den Kopf schüttelten. „Ja, versteht ihr denn nicht?“, fragte er verzweifelt, „es geht hier um Wintersaison oder Tod!“ Nein, sie verstanden nicht.

Hilfesuchend ging er zum Bürgermeister. „Keine Panik“, sagte Grüner, „das ist nämlich eine beratende Kommission.“ Er war immer noch stolz auf seinen Trick. „Entscheiden tu ich.“ Oder das Land, der Staat ...

Grüner erschrak, als plötzlich Schützenhauptmann Karl Treffer vor ihm stand. Und dieser wollte klare Worte darüber, ob die Flaneider Schützen im Advent ihren Weihnachtsglühweinstand aufstellen durften oder nicht. Er wollte die sogenannte Planungssicherheit, die in unsicheren Zeiten immer mehr Leute verlangten. Das hing allerdings nicht vom Bürgermeister ab, sondern vom Land, von Rom ... Und natürlich vom Virus. Aber Grüner war auch ein Mann der Kompromisse. „Wir könnten das über die Abstände regeln. Wenn die Zahlen schlecht sind, dann muss halt ein größerer Abstand eingehalten werden. Wenn sie ganz schlecht sind, dann darf halt nur einer vor dem Budel stehen und der nächste im Nachbardorf.“

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